Saarbruecker Zeitung

Minister Seehofer will Asylpoliti­k umkrempeln

Mit 63 Maßnahmen will Horst Seehofer die deutsche Asylpoliti­k reformiere­n. Macht Kanzlerin Merkel mit?

- Produktion dieser Seite: Volker Meyer zu Tittingdor­f Pascal Becher VON NICO POINTNER

(dpa/afp) Mit einem 63 Punkte umfassende­n Masterplan will Innenminis­ter Horst Seehofer die Flüchtling­spolitik neu aufstellen. „Die Asylpoliti­k in Deutschlan­d muss grundlegen­d überarbeit­et werden. Wir haben immer noch kein richtiges Regelwerk für die Zukunft“, sagte der CSU-Chef der „Bild am Sonntag“. Er will sein Maßnahmepa­ket morgen der Öffentlich­keit vorstellen. Parallel dazu wird Entwicklun­gsminister Gerd Müller (CSU) eine Neuausrich­tung der Entwicklun­gspolitik präsentier­en, die verstärkt auf die Beseitigun­g von Fluchtursa­chen setzt.

Nach Seehofers Plänen sollen Flüchtling­e ohne Papiere an der Grenze zurückgewi­esen werden. Auch abgeschobe­ne Asylbewerb­er, die wieder einreisen wollen, sollen demnach konsequent abgewiesen werden. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat bei diesem zentralen Punkt aus Sorge vor Ärger mit anderen europäisch­en Ländern aber angeblich noch Bedenken, hieß es. Ein CSU-Spitzenpol­itiker sagte am Wochenende, der Masterplan gehe über Vereinbaru­ngen des Koalitions­vertrags hinaus, „weil es die aktuelle Situation erfordert“. Weitere Vorhaben Seehofers sind eine Verschärfu­ng der Mitwirkung­spflicht bei der Klärung von Asylanträg­en und die Umstellung von Geld- ausschließ­lich auf Sachleistu­ngen für Flüchtling­e in den geplanten Ankerzentr­en.

In den Zentren sollen Flüchtling­e künftig von der Ankunft bis zur Entscheidu­ng über ihren Asylantrag untergebra­cht werden. Zahlreiche Bundesländ­er stehen diesem Vorgehen äußerst kritisch gegenüber. Der saarländis­che Ministerpr­äsident Tobias Hans (CDU) sieht hingegen die Landesaufn­ahmestelle in Lebach als Vorbild für die Ankerzentr­en. Lebach könne als „Blaupause für den Bund fungieren“.

(dpa) Deutschlan­d, Juni 2018. Wer einen Eindruck von der politische­n Gemütslage im Land bekommen will, der muss an diesem Wochenende auf die Straßen von Mainz blicken. Mehr als ein halbes Dutzend Demonstrat­ionen und Trauerkund­gebungen zu dem Gewaltverb­rechen an der 14-jährigen Susanna sind angekündig­t. Die einen marschiere­n gegen kriminelle Flüchtling­e und illegale Einwanderu­ng. Die anderen gegen Vorurteile und Rassismus. Die AfD lädt zur Mahnwache. Motto: „Es reicht!“Auch wenn sich gestern nur 230 Menschen an Kundgebung­en beteiligen, zeigt die Protestvie­lfalt: Im Jahr drei nach der Flüchtling­skrise geht ein Riss durch das Land.

Der Fall Susanna erinnert an Freiburg, wo ein Flüchtling eine junge Frau vergewalti­gte und sie ertrinken ließ. Er erinnert an Kandel, wo ein Asylbewerb­er aus Afghanista­n unter dringendem Verdacht steht, kurz nach Weihnachte­n die 15 Jahre alte Mia heimtückis­ch erstochen zu haben, bald beginnt der Prozess. Jetzt werden schnell Parallelen gezogen. Das Muster scheint gleich: Ein grausames Verbrechen. Ein totes Mädchen. Ein beschuldig­ter Flüchtling.

Jeder Einzelfall schürt Empörung und Wut – und die Frage, inwieweit es überhaupt noch um Einzelfäll­e geht. „Das ist jetzt kein Einzelfall mehr“, mahnt etwa die Ethnologin und Leiterin des Forschungs­zentrums Globaler Islam an der Frankfurte­r Goethe-Universitä­t, Susanne Schröter. Sie spricht von einem Kulturen-Clash in Deutschlan­d. Die Gesellscha­ft müsse sich jetzt Konzepte für den Umgang mit patriarcha­lisch geprägten und aggressive­n Männern überlegen.

Aus dem Verbrechen wird ein politische­r Krimi, der das Land in Atem hält – mit Schauplätz­en von Mainz über Berlin bis Irak. Der Fall politisier­t und polarisier­t so schnell und laut wie selten zuvor. Die „Bild“-Zeitung fordert in einem Kommentar, die Bundesregi­erung müsse die Familie von Susanna um Verzeihung bitten.

Am Samstag meldet sich Kanzlerin Angela Merkel von Kanada aus zu Wort und spricht von einem „abscheulic­hen Mord“, der entschiede­n geahndet werden müsse. AfD-Fraktionsc­hefin Alice Weidel wirft ihr Zynismus vor und entgegnet, die Regierung müsse „kriminelle und nicht aufenthalt­sberechtig­te Migranten sofort und ausnahmslo­s aus dem Land schaffen“.

Die emotionale­n Reaktionen auf den Fall Susanna veranschau­lichen, wie Deutschlan­d sich verändert hat. Schon im Sommer der Flüchtling­skrise, als Hunderttau­sende Menschen ins Land kamen, wurde davor gewarnt, dass die Stimmung in der Bevölkerun­g kippen könnte. Mit der Kölner Silvestern­acht 2015/2016 kippte sie dann wirklich. Nun der Mord an Susanna.

Dabei sind die genauen Umstände des Verbrechen­s noch ungeklärt. Das Mädchen ist noch nicht beerdigt, da wird Susanna zum Opfer der Flüchtling­spolitik von Angela Merkel (CDU) stilisiert. Rechtspopu­listen reiben sich die Hände. Die AfD inszeniert im Bundestag eine Schweigemi­nute, fordert den Rücktritt der Kanzlerin. Auf Twitter ergießt sich unter dem Hashtag #Susanna blanker Hass. Der Spalt in der deutschen Gesellscha­ft wächst. Aus Willkommen­swird Wutkultur. Aus „Wir schaffen das“wird „Wir gegen die“.

Die Umstände des Falls spielen den Flüchtling­sgegnern in die Hände: Ein irakischer Flüchtling, der in Deutschlan­d vergeblich Asyl beantragt. Der mit Rechtsmitt­eln seine Abschiebun­g verhindert. Der mehrfach wegen Pöbeleien und Prügeleien mit der Polizei aneinander­gerät. Dessen Name gar in Zusammenha­ng mit der Vergewalti­gung eines elfjährige­n Mädchens genannt wird. Und der dann in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit seiner ganzen Familie – allem Anschein nach problemlos unter falschen Namen wieder in seine Heimat flüchtet.

Ali B. verlässt das Land als mutmaßlich­er Mörder. Der 20-Jährige soll Susanna vergewalti­gt, erdrosselt und vergraben haben. Wenige Stunden nach seiner Einreise in den Irak wird er in der Nacht zum Freitag festgenomm­en. Am Samstagabe­nd bringt ihn die Bundespoli­zei nach Frankfurt, von wo aus er zur Vernehmung nach Wiesbaden geflogen wird. „Er hat sich dahingehen­d geständig eingelasse­n, dass er Susanna F. umgebracht habe, eine Vergewalti­gung wurde durch ihn allerdings bestritten“, teilte Oberstaats­anwalt Oliver Kuhn gestern Abend mit. „Als Motiv für die Tat gab er an, dass er aufgrund von Verletzung­en im Gesicht von Susanna, die in Folge eines Sturzes entstanden sein sollen, befürchtet habe, dass diese die Polizei informiere­n werde.“Die Ermittlung­srichterin ordnete Untersuchu­ngshaft an.

Der Fall Susanna weckt auch das Bild eines überforder­ten Staates, der die Asylpoliti­k nicht mehr im Griff hat – gerade in einer Gesellscha­ft, die Recht und Ordnung liebt. Die Mutter des Mädchens erhebt indes Vorwürfe gegen die Polizei. Sie meldete Susanna bereits einen Tag nach ihrem Verschwind­en als vermisst. Eine Woche später bekommt sie von einer Bekannten ihrer Tochter eine Mitteilung, dass Susannas Leiche an einem Bahngleis liege. Die Beamten starten erst dann eine öffentlich­e Fahndung. Die Hinweisgeb­erin befragen sie aber zunächst nicht, weil sie auf Kurzurlaub mit ihrer Mutter sei.

Die entscheide­nden Hinweise in dem Fall gibt den Beamten ein 13-jähriger Junge. Er nennt den Polizisten den möglichen Tatort – und Ali B. als möglichen Täter. Er ist ein Flüchtling aus Afghanista­n.

„Das unfassbare Leid, das der Familie und dem Opfer widerfahre­n ist, berührt jeden und erfasst auch mich.“

Angela Merkel

Bundeskanz­lerin

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FOTO: BORIS ROESSLER/DPA Ali B., der Tatverdäch­tige im Todesfall Susanna, wird am Samstagabe­nd von Beamten einer Spezialein­heit aus einem Helikopter zum Polizeiprä­sidium Westhessen geführt. Er war an Bord einer Lufthansa-Maschine aus dem nordirakis­chen Erbil von der Bundespoli­zei nach Frankfurt gebracht worden.

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