Minister Seehofer will Asylpolitik umkrempeln
Mit 63 Maßnahmen will Horst Seehofer die deutsche Asylpolitik reformieren. Macht Kanzlerin Merkel mit?
(dpa/afp) Mit einem 63 Punkte umfassenden Masterplan will Innenminister Horst Seehofer die Flüchtlingspolitik neu aufstellen. „Die Asylpolitik in Deutschland muss grundlegend überarbeitet werden. Wir haben immer noch kein richtiges Regelwerk für die Zukunft“, sagte der CSU-Chef der „Bild am Sonntag“. Er will sein Maßnahmepaket morgen der Öffentlichkeit vorstellen. Parallel dazu wird Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) eine Neuausrichtung der Entwicklungspolitik präsentieren, die verstärkt auf die Beseitigung von Fluchtursachen setzt.
Nach Seehofers Plänen sollen Flüchtlinge ohne Papiere an der Grenze zurückgewiesen werden. Auch abgeschobene Asylbewerber, die wieder einreisen wollen, sollen demnach konsequent abgewiesen werden. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat bei diesem zentralen Punkt aus Sorge vor Ärger mit anderen europäischen Ländern aber angeblich noch Bedenken, hieß es. Ein CSU-Spitzenpolitiker sagte am Wochenende, der Masterplan gehe über Vereinbarungen des Koalitionsvertrags hinaus, „weil es die aktuelle Situation erfordert“. Weitere Vorhaben Seehofers sind eine Verschärfung der Mitwirkungspflicht bei der Klärung von Asylanträgen und die Umstellung von Geld- ausschließlich auf Sachleistungen für Flüchtlinge in den geplanten Ankerzentren.
In den Zentren sollen Flüchtlinge künftig von der Ankunft bis zur Entscheidung über ihren Asylantrag untergebracht werden. Zahlreiche Bundesländer stehen diesem Vorgehen äußerst kritisch gegenüber. Der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) sieht hingegen die Landesaufnahmestelle in Lebach als Vorbild für die Ankerzentren. Lebach könne als „Blaupause für den Bund fungieren“.
(dpa) Deutschland, Juni 2018. Wer einen Eindruck von der politischen Gemütslage im Land bekommen will, der muss an diesem Wochenende auf die Straßen von Mainz blicken. Mehr als ein halbes Dutzend Demonstrationen und Trauerkundgebungen zu dem Gewaltverbrechen an der 14-jährigen Susanna sind angekündigt. Die einen marschieren gegen kriminelle Flüchtlinge und illegale Einwanderung. Die anderen gegen Vorurteile und Rassismus. Die AfD lädt zur Mahnwache. Motto: „Es reicht!“Auch wenn sich gestern nur 230 Menschen an Kundgebungen beteiligen, zeigt die Protestvielfalt: Im Jahr drei nach der Flüchtlingskrise geht ein Riss durch das Land.
Der Fall Susanna erinnert an Freiburg, wo ein Flüchtling eine junge Frau vergewaltigte und sie ertrinken ließ. Er erinnert an Kandel, wo ein Asylbewerber aus Afghanistan unter dringendem Verdacht steht, kurz nach Weihnachten die 15 Jahre alte Mia heimtückisch erstochen zu haben, bald beginnt der Prozess. Jetzt werden schnell Parallelen gezogen. Das Muster scheint gleich: Ein grausames Verbrechen. Ein totes Mädchen. Ein beschuldigter Flüchtling.
Jeder Einzelfall schürt Empörung und Wut – und die Frage, inwieweit es überhaupt noch um Einzelfälle geht. „Das ist jetzt kein Einzelfall mehr“, mahnt etwa die Ethnologin und Leiterin des Forschungszentrums Globaler Islam an der Frankfurter Goethe-Universität, Susanne Schröter. Sie spricht von einem Kulturen-Clash in Deutschland. Die Gesellschaft müsse sich jetzt Konzepte für den Umgang mit patriarchalisch geprägten und aggressiven Männern überlegen.
Aus dem Verbrechen wird ein politischer Krimi, der das Land in Atem hält – mit Schauplätzen von Mainz über Berlin bis Irak. Der Fall politisiert und polarisiert so schnell und laut wie selten zuvor. Die „Bild“-Zeitung fordert in einem Kommentar, die Bundesregierung müsse die Familie von Susanna um Verzeihung bitten.
Am Samstag meldet sich Kanzlerin Angela Merkel von Kanada aus zu Wort und spricht von einem „abscheulichen Mord“, der entschieden geahndet werden müsse. AfD-Fraktionschefin Alice Weidel wirft ihr Zynismus vor und entgegnet, die Regierung müsse „kriminelle und nicht aufenthaltsberechtigte Migranten sofort und ausnahmslos aus dem Land schaffen“.
Die emotionalen Reaktionen auf den Fall Susanna veranschaulichen, wie Deutschland sich verändert hat. Schon im Sommer der Flüchtlingskrise, als Hunderttausende Menschen ins Land kamen, wurde davor gewarnt, dass die Stimmung in der Bevölkerung kippen könnte. Mit der Kölner Silvesternacht 2015/2016 kippte sie dann wirklich. Nun der Mord an Susanna.
Dabei sind die genauen Umstände des Verbrechens noch ungeklärt. Das Mädchen ist noch nicht beerdigt, da wird Susanna zum Opfer der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel (CDU) stilisiert. Rechtspopulisten reiben sich die Hände. Die AfD inszeniert im Bundestag eine Schweigeminute, fordert den Rücktritt der Kanzlerin. Auf Twitter ergießt sich unter dem Hashtag #Susanna blanker Hass. Der Spalt in der deutschen Gesellschaft wächst. Aus Willkommenswird Wutkultur. Aus „Wir schaffen das“wird „Wir gegen die“.
Die Umstände des Falls spielen den Flüchtlingsgegnern in die Hände: Ein irakischer Flüchtling, der in Deutschland vergeblich Asyl beantragt. Der mit Rechtsmitteln seine Abschiebung verhindert. Der mehrfach wegen Pöbeleien und Prügeleien mit der Polizei aneinandergerät. Dessen Name gar in Zusammenhang mit der Vergewaltigung eines elfjährigen Mädchens genannt wird. Und der dann in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit seiner ganzen Familie – allem Anschein nach problemlos unter falschen Namen wieder in seine Heimat flüchtet.
Ali B. verlässt das Land als mutmaßlicher Mörder. Der 20-Jährige soll Susanna vergewaltigt, erdrosselt und vergraben haben. Wenige Stunden nach seiner Einreise in den Irak wird er in der Nacht zum Freitag festgenommen. Am Samstagabend bringt ihn die Bundespolizei nach Frankfurt, von wo aus er zur Vernehmung nach Wiesbaden geflogen wird. „Er hat sich dahingehend geständig eingelassen, dass er Susanna F. umgebracht habe, eine Vergewaltigung wurde durch ihn allerdings bestritten“, teilte Oberstaatsanwalt Oliver Kuhn gestern Abend mit. „Als Motiv für die Tat gab er an, dass er aufgrund von Verletzungen im Gesicht von Susanna, die in Folge eines Sturzes entstanden sein sollen, befürchtet habe, dass diese die Polizei informieren werde.“Die Ermittlungsrichterin ordnete Untersuchungshaft an.
Der Fall Susanna weckt auch das Bild eines überforderten Staates, der die Asylpolitik nicht mehr im Griff hat – gerade in einer Gesellschaft, die Recht und Ordnung liebt. Die Mutter des Mädchens erhebt indes Vorwürfe gegen die Polizei. Sie meldete Susanna bereits einen Tag nach ihrem Verschwinden als vermisst. Eine Woche später bekommt sie von einer Bekannten ihrer Tochter eine Mitteilung, dass Susannas Leiche an einem Bahngleis liege. Die Beamten starten erst dann eine öffentliche Fahndung. Die Hinweisgeberin befragen sie aber zunächst nicht, weil sie auf Kurzurlaub mit ihrer Mutter sei.
Die entscheidenden Hinweise in dem Fall gibt den Beamten ein 13-jähriger Junge. Er nennt den Polizisten den möglichen Tatort – und Ali B. als möglichen Täter. Er ist ein Flüchtling aus Afghanistan.
„Das unfassbare Leid, das der Familie und dem Opfer widerfahren ist, berührt jeden und erfasst auch mich.“
Angela Merkel
Bundeskanzlerin