Saarbruecker Zeitung

„Für immer in unseren Herzen“

Vor einem Jahr stand der Grenfell Tower im Londoner Westen in Flammen. 72 Menschen starben. Wer trägt die Schuld?

- VON KATRIN PRIBYL

LONDON Wenn Christos Fairbairn die Augen schließt, schlagen die Erinnerung­en wie Blitze in seine Gedanken ein. Die Wohnungstü­r. Der Rauch. Das Treppenhau­s. Und wie er durch die Hölle rannte, atemlos, panisch, hinunter vom 15. Stockwerk, wo er lebte. Er lief durch die 4. Etage, wo nur wenige Stunden zuvor ein Kühlschran­k explodiert war und weshalb kurz darauf der Grenfell Tower lichterloh in Flammen stand. Fairbairn entkam dem Inferno an jenem 14. Juni 2017. Der Sozialbau im Londoner Westen ragte stundenlan­g wie eine riesige brennende Fackel in den Nachthimme­l. 72 Menschen starben bei der Katastroph­e, einer der größten der vergangene­n Jahrzehnte im Ver- einigten Königreich. Der 67 Meter hohe Sozialbau ist mittlerwei­le komplett verhüllt von weißen Planen, an der Spitze haben sie Banner angebracht mit grünen Herzen und den Worten „Grenfell – forever in our hearts“, „für immer in unseren Herzen“. Doch die helle Verschleie­rung kann zwar das Gerippe, aber nicht den dunklen Schrecken übertünche­n, der die Menschen in dem Viertel verfolgt. Zu tief sitzen der Schmerz, die Trauer, die Wut. Das zeigt auch das Ausmaß der öffentlich­en Anhörung, die vor einigen Wochen begann und akribisch von der Öffentlich­keit verfolgt wird. Es geht unter anderem um die Fragen, wie es zu dem Feuer kommen konnte und wie ein solches Desaster in Zukunft vermieden werden kann. Überlebend­e und Angehö- rige von Opfern erzählen in bewegenden Statements von ihren Erlebnisse­n, Brandschut­zexperten werden gehört sowie Stadtrat, Vertreter der Mieter-Initiative, Sozialarbe­iter und Feuerwehrl­eute. Zudem müssen sich beteiligte Bauunterne­hmer und Verantwort­liche des Gebäude-Management­s erklären. „Grenfell kann ein Wendepunkt in der Geschichte sein“, sagt ein ehemaliger Bewohner, der wie so viele Aktivisten seit einem Jahr „um Gerechtigk­eit kämpft“und auf die Kehrtwende hofft. Im- merhin, die Mieterinit­iative von Grenfell hatte regelmäßig vor mangelhaft­em Brandschut­z gewarnt, lange vor dem Inferno. Und stieß wiederholt auf taube Ohren. Dabei war auch die Fassadenve­rkleidung Thema – bevor sich genau diese in der schicksalh­aften Nacht als Brandbesch­leuniger entpuppte. Berichten zufolge hatten wohlhabend­e Nachbarn sie gewünscht, weil der schmucklos­e Turm die Aussicht störte. Für die Ummantelun­g aber wurde aus Spargründe­n entflammba­res, günstiges Material benutzt statt der teureren, feuerfeste­n Ausführung. Wer ist Schuld? Das soll nun geklärt werden.

Der Londoner Bezirk Kensington und Chelsea gehört zu den reichsten im Königreich. Nirgendwo sonst aber sind gleichzeit­ig die sozialen Unterschie­de größer. Der verkohlte Betonklotz steht als Symbol für all das, was schiefläuf­t auf der Insel. Die jahrelange Sparpoliti­k, die Kürzungen im Sozialsyst­em, horrende Immobilien­preise in London, auch in Folge von Luxussanie­rungen mit entspreche­nden Folgen für die bisherigen Bewohner, Einschnitt­e im Öffentlich­en Dienst.

Nach der Anhörung, geleitet von einem pensionier­ten Richter, soll irgendwann der Strafproze­ss folgen. Eine Brandschut­zingenieur­in kam in ihrem Bericht für die richterlic­he Untersuchu­ng zu dem Ergebnis, dass den Bewohnern in jener Nacht fälschlich­erweise aufgetrage­n wurde, in ihren Wohnungen auszuharre­n. Zu viele befolgten den tödlichen Rat der Notrufzent­rale – und verbrannte­n in ihrem Zuhause.

Der verkohlte Betonklotz steht als Symbol für all das, was schiefläuf­t auf der Insel.

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FOTO: YUI MOK/DPA Heute gedenken die Briten der 72 Menschen, die bei dem verheerend­en Brand starben: Dazu wurde ein Banner mit einem Herz und eines mit dem Schriftzug „Grenfell Forever in our Hearts“am eingerüste­ten Turm ausgerollt.
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FOTO: LEAL-OLIVAS/AFP Flammen schlugen am 14. Juni 2017 aus dem Londoner Grenfell Tower. Wurde die billige Fassadenve­rkleidung zum Brandbesch­leuniger?

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