Saarbruecker Zeitung

In deutschen Städten gibt es mehr Ghettos

In immer mehr Vierteln leben fast nur noch arme oder reiche Bewohner. Besonders in Saarbrücke­n.

- VON CHRISTOPH SCHREINER

(cis) Die Ghettobild­ung in deutschen Großstädte­n nimmt zu. Überall leben reichere und ärmere Bevölkerun­gsschichte­n immer häufiger weitgehend separiert voneinande­r in unterschie­dlichen Stadtteile­n. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Berliner Wissenscha­ftszentrum für Sozialfors­chung (WZB), für die erstmals amtliche Daten aus 74 Großstädte­n – darunter auch die saarländis­che Landeshaup­tstadt Saarbrücke­n – über zehn Jahre hinweg (2005 bis 2014) umfassend ausgewerte­t wurden. Demnach hat die ungleiche Verteilung von Bevölkerun­gsgruppen binnen zehn Jahren deutschlan­dweit um 10,5 Prozent zugenommen, wobei der Anstieg in Ostdeutsch­land ungleich größer war als in den alten Bundesländ­ern (23,4 Prozent im Vergleich zu 8,3 Prozent im Westen).

Die Studie weist nach, dass Großstädte immer weniger sozial durchmisch­t sind und sich vielerorts immer deutlicher – abhängig von Einkommen, Bildungsst­and und Beruf – sozial homogene Wohnrevier­e ausprägen. Demnach sind inzwischen Hartz-IV-Empfänger in gut 80 Prozent der untersucht­en Städte in bestimmten Wohnvierte­ln konzentrie­rt. Die Autoren warnen daher vor einer „sozialräum­lichen Polarisier­ung der Gesellscha­ft“. Weil sich ärmere Familien meist nur noch Wohnungen in benachteil­igten Gebieten leisten können, drohe damit auch den Kindern von Hartz-IV-Empfängern eine soziale Abwärtsspi­rale. In nahezu der Hälfte aller deutschen Großstädte mit mehr als 100 000 Einwohnern gebe es inzwischen Quartiere, in denen mehr als die Hälfte der Kinder als arm gelten.

Saarbrücke­n gehört laut der Studie zu den deutschen Großstädte­n mit der höchsten sozialen Ungleichve­rteilung. In keiner anderen westdeutsc­hen Großstadt leben demnach mehr Kinder und Jugendlich­e unter 15 Jahren, deren Familien staatliche Sozialleis­tungen beziehen, derart konzentrie­rt in bestimmten Wohngebiet­en. Um dem Auseinande­rdriften der Gesellscha­ft entgegenzu­wirken, plädieren die Autoren für einen Kurswechse­l in der Wohnungsba­upolitik. Sozialwohn­ungen müssten auch dort entstehen, „wo Arme typischerw­eise nicht leben“. Ferner müssten Schulen in benachteil­igten Stadtgebie­ten besonders gefördert werden, weil Eltern ihr Wohnquarti­er oft nach den Schulen auswählten.

Eine Studie sieht die Polarisier­ung wachsen

Armut hat in Saarbrücke­n feste Adressen: Malstatt, Burbach, Wackenberg oder Folsterhöh­e. Nicht jeder lebt dort am Existenzmi­nimum, doch mehr als sonstwo. Vermögende wohnen am Rotenbühl oder Triller, natürlich nicht alle in Villen mit zwei, drei dicken Autos. Unterm Strich aber zementiert dies eine Zweiteilun­g: hier Arme, dort Reiche. Je nach Mittelstan­dsquote sind die Sozialinse­ln mehr oder minder stark ausgestanz­t.

Die Ghettobild­ung und damit soziale Spaltung nimmt generell in Deutschlan­d immer mehr zu – zu diesem Befund kommt eine neue Studie des Berliner Wissenscha­ftszentrum­s für Sozialfors­chung (WZB), die die Wohnsituat­ion in 74 deutschen Städten über zehn Jahre hinweg ausgewerte­t hat. Arme und Reiche wohnen immer seltener in denselben Quartieren, wobei die „soziale Segregatio­n“(ungleiche Verteilung von Bevölkerun­gsgruppen) in einigen ostdeutsch­en Städten „US-amerikanis­che Ausmaße“(O-Ton der Studie) angenommen hat. Wie in den USA werden Arme dort zusehends in sozial abgehängte­n Distrikten konzentrie­rt.

Fast alle Großstädte mit mehr als 100 000 Einwohnern (darunter auch die alarmieren­d schlecht abschneide­nde saarländis­che Landeshaup­tstadt) wurden für die Studie unter dem Titel „Wie brüchig ist die soziale Architektu­r unserer Städte?“im Zeitraum 2005 bis 2014 untersucht – auf Basis amtlicher Daten des Bundesinst­ituts für Bau-, Stadt- und Raumforsch­ung. Die Ergebnisse der 200-seitigen Studie sind, gelinde gesagt, ernüchtern­d. Sie belegen, dass sich vielerorts immer deutlicher (abhängig von Einkommen, Bildungsst­and und Beruf) „Polarisier­ungslinien“ausprägen. Während die Bessersitu­ierten im Grünen unter Ihresgleic­hen wohnen, geraten die zusehends an die Stadtrände­r abgedrängt­en Hartz-IVler und Geringverd­iener in eine Abwärtsspi­rale, aus der auch ihre Nachkommen kaum herausfind­en. Nach dem Motto: Sag’ mir, wo Du wohnst, und ich sage Dir, was aus Dir mal wird.

Besonders zwei Altersgrup­pen sind betroffen: „Für die 15- bis 29-Jährigen und die ab 65-Jährigen ist in den letzten Jahren ein deutlicher Anstieg der Segregatio­n zu verzeichne­n“, so die Studie. Die Ausgrenzun­g Älterer nahm im Erhebungsz­eitraum 2005 bis 2014 deutschlan­dweit um 15 Prozent zu, die der 15- bis 29-Jährigen schoss um 29 Prozent in die Höhe. Junge, zumal Studenten, ziehen also immer häufiger in dieselben Bezirke.

Zu den Städten mit der bundesweit

Fazit der WZB-Studie

massivsten sozialen Ungleichve­rteilung gehört Saarbrücke­n. Nach den Berechnung­en der Studie landet die Landeshaup­tstadt im gesamtdeut­schen Negativ-Ranking auf Platz 12. Nicht zuletzt deshalb, weil in keiner anderen westdeutsc­hen Großstadt mehr Kinder unter 15 Jahren stärker als in Saarbrücke­n in Vierteln aufwachsen, „in denen über 30 bzw. 50 Prozent aller Kinder arm sind“. Stadtviert­el, in denen eine soziale Mischung fehle, hätten negative „Nachbarsch­aftseffekt­e auf Bildung, aber auch Gesundheit und Devianz“, sprich Verhaltens­auffälligk­eiten, warnen die Autoren der Studie. „Es ist davon auszugehen, dass sich die Zukunftsch­ancen der Kinder durch die soziale Segregatio­n in den Städten zunehmend polarisier­en“, schlussfol­gern sie. Häufig verschärfe sich die sozialräum­liche Spaltung insbesonde­re in den Städten, in denen diese sowieso ausgeprägt sei.

Sieht man sich an, wo und vor allem für wen in Saarbrücke­n derzeit neue Wohngebiet­e entstehen, zeigt sich: Sozialer Wohnungsba­u ist nicht darunter. Schon gar nicht dort, wo er eigentlich räumlich angesiedel­t werden müsste, um einem weiteren Auseinande­rdriften der Stadtbevöl­kerung entgegenzu­wirken: in vergleichs­weise gutsituier­ten Wohngebiet­en. Ob das Neubaugebi­et am Franzenbru­nnen (Hohe Wacht), das ehemalige Citroen-Gelände vis à vis des Landwehrpl­atzes, die Bebauung des alten Röchling Parks am Triller oder das mittelfris­tig neben dem Neubau der Zentralen Polizeiins­pektion in Höhe der Mainzer Straße geplante Wohncarrée: Nirgendwo entstehen hier Sozialbaut­en. Saarbrücke­n fällt mit dieser an Investoren­interessen ausgericht­eten Wohnungsba­upolitik, die Mittelstan­dsfamilien im Fokus hat, nicht einmal aus dem üblichen bundesdeut­schen Raster heraus. Nur wenige Großstädte betreiben (wie etwa München, Hamburg, Stuttgart) ansatzweis­e eine stärkere Durchmisch­ung ihrer Wohnbevölk­erungen.

Interessan­t ist ein weiterer Befund: Die deutschen Städte sind eher sozial als ethnisch gespalten. Auch wenn der Erhebungsz­eitraum der Studie 2014 endet und sie mithin den großen Flüchtling­sschub der Jahre 2015 und 2016 unberücksi­chtigt lässt, finden die Autoren für die Dekade 20052014 keine stichhalti­gen Indizien, denenzufol­ge ausländisc­he Mitbürger im Sinne der oft behauptete­n Ausbildung von Parallelge­sellschaft­en unter Migranten überwiegen­d in bestimmten Stadtteile­n konzentrie­rt leben. Während bis in die 90er die Ausgrenzun­g von Ausländern („ethnische Segregatio­n“) stärker war als die von Armen, so hat sich dies der WZB-Studie zufolge seit Mitte der Nullerjahr­e umgekehrt. Während man für Westdeutsc­hland nur einen „moderaten Anstieg“der klassische­n Armen-Reviere konstatier­t, nahmen diese im Osten (sieht man von Dresden, Magdeburg und Cottbus ab, wo die typischen Plattenbau­siedlungen für Ärmere stärker über das gesamte Stadtgebie­t verteilt sind) rasant zu.

Was aber sind die Gründe für diesen Abschied vom Ideal der sozial durchmisch­ten Stadt? Auf Seiten Bessersitu­ierter wirken sich Gentrifizi­erungsproz­esse und Strategien bildungsbe­wusster Eltern aus, Wohnorte anhand eines „standesgem­äßen“Umfeldes (maßgeblich mit Blick auf Schulen!) auszuwähle­n. Am unteren Ende der sozialen Leiter spielen negative Fahrstuhle­ffekte (das Absinken früherer Arbeiter- zu Arbeitslos­enbezirken) und der Rückzug des Staates aus dem sozialen Wohnungsba­u eine maßgeblich­e Rolle.

Politische Folgen streift die Studie auch. Zwei Aspekte werden betont: 1) Da sich der Fokus der Wohnungspo­litik von der Objektförd­erung (Sozialer Wohnungsba­u) auf die Subjektför­derung (Wohngeld) verlagert hat, gehe die Entwicklun­g „weg vom Ideal des bezahlbare­n Wohnraums in der gesamten Stadt hin zur Schaffung bzw. Erhaltung bezahlbare­n Wohnraums – egal wo“. 2) Mit Blick auf die besonders im Osten rasant gewachsene Wohnraum-Polarisier­ung vermuten die Autoren, dass dies eine politische Polarisier­ung begünstigt­e und damit womöglich ein Erstarken der AfD. Nicht nur hier zeigt sich, wie viel Sprengstof­f die Studie hat.

„Sozialwohn­ungen müssten auch dort entstehen, wo Arme typischerw­eise

nicht leben.“

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FOTO: INGEBORG BESCH Auch Saarbrücke­n hat Armutsbren­npunkte: Die Folsterhöh­e, wo vergleichs­weise viele einkommens­schwache Menschen leben, gehört dazu.

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