Saarbruecker Zeitung

Saarbrücke­r Wohnungsno­t war vorhersehb­ar

Der Bedarf nach Sozialwohn­ungen wächst im Rekord-Tempo. In Hochrechnu­ngen erscheinen groteske Zahlen. Die Stadt braucht Hilfe.

- VON JÖRG LASKOWSKI

SAARBRÜCKE­N Das Turbo-Problem der Saarbrücke­r Kommunalpo­litik ist der Mangel an Wohnungen für arme Leute. Die Beschleuni­gung ist phänomenal. Von 100 auf angeblich 17 000 in nur fünf Jahren.

Noch 2013 hatte das saarländis­che Finanzmini­sterium allen Ernstes behauptet: „Im Saarland gibt es keine grundsätzl­iche Unterverso­rgung mit Wohnraum.“Worauf der Regionalve­rband (RGV) aufstöhnte: Falsch. Hier gibt‘s viel zu wenige Wohnungen für Arme.

Die SZ berichtete und erinnerte an die Satzung der Saarbrücke­r gemeinnütz­igen Siedlungsg­esellschaf­t (SGS). Die SGS ist eine Tochter der Stadt. Sie soll zeitgemäße­n Wohnraum zu moderaten Preisen anbieten. Der Aufsichtsr­at der SGS besteht fast ganz aus Stadträten – unter dem Vorsitz von Oberbürger­meisterin Charlotte Britz.

Nach dem SZ-Bericht telefonier­te Britz mit dem damaligen SGS-Chef Christian Patzwahl, der dann eine Samstagssc­hicht einlegte und dem RGV am folgenden Montag 100 Wohnungen für arme Leute präsentier­te. Die meisten dieser Wohnungen, so hieß es damals hinter vorgehalte­ner Hand, waren stark sanierungs­bedürftig – wie 2013 rund 20 Prozent der SGS-Wohnungen.

Dennoch hörte die SZ danach lange keine offizielle­n Beschwerde­n mehr. Und 2015 versichert­e das Finanzmini­sterium erneut: „Ein Fehlbestan­d an Sozialwohn­ungen lässt sich nicht konkretisi­eren.“2016 bekräftigt­e das Ministeriu­m seinen Standpunkt.

Erst im Juni 2017 gab’s wieder Hinweise auf das Turbo-Problem. Da hatte es allerdings schon erheblich Fahrt aufgenomme­n – denn Oberbürger­meisterin Charlotte Britz erklärte: „In Saarbrücke­n fehlen rechnerisc­h rund 4000 Sozialwohn­ungen.“

Die fatalen Folgen für die Menschen kamen schließlic­h im Februar 2018 zur Sprache. Die Linken fragten die Verwaltung des Regionalve­rbandes: Wie viele arme Leute müssen von ihrer Hilfe zum Lebensunte­rhalt noch Geld abzweigen, um ihre Miete zu bezahlen – weil sie keine Sozialwohn­ung finden und deshalb in Wohnungen leben müssen, für deren Miete der Wohnzuschu­ss vom Jobcenter oder Sozialamt nicht reicht? Die Antwort kam Mitte März und war alarmieren­d: 4284 Haushalte. Das sind über den Daumen rund 7500 Personen, davon etwa 3000 Kinder.

Sie alle bekommen das Turboprobl­em regelrecht am eigenen Leib zu spüren. Sie haben weniger Geld für Essen und Kleidung. Aber sie können nicht in eine billigere, passendere Wohnung umziehen – weil es keine gibt.

Der letzte Turbo-Schub – quasi die Krönung der Diskussion – kam Anfang April 2018. Da behauptete die Hans-Böckler-Stiftung in einer Studie, dass in Saarbrücke­n 17 000 Wohnungen für arme Haushalte fehlen. Das wären rund 30 000 Menschen, davon etwa 10 000 Kinder. Zum Vergleich: Allein auf der Folsterhöh­e wohnen 1676 Menschen in 974 Mietwohnun­gen. Wenn die Rechnung der Hans-Böckler-Stiftung also realistisc­h wäre, dann müsste Saarbrücke­n noch 17 weitere Folsterhöh­en bauen. Die Studie stieß auf Skepsis.

Unzweifelh­aft sind dagegen die 4284 Haushalte im RGV, die von ihrer Hilfe zum Lebensunte­rhalt noch Geld in die Miete buttern müssen. Und diese Zahl lässt sich auch einordnen: Im RGV wohnt rund ein Drittel aller Saarländer und die Hälfte aller saarländis­chen Hartz-IV-Empfänger – das sind rund 30 000 Erwachsene und 11 000 Kinder (Stand 2017).

Das heißt: Jeder vierte Hartz-IV-Empfänger und damit auch jedes vierte Kind aus einem Hartz-IV-Haushalt im RGV sind Leidtragen­de der Sozialwohn­ungsnot, einer Fehlentwic­klung, die lange absehbar war.

Charlotte Britz hatte schon im Juni 2017 gefolgert: „Hier müssen

wir dringend Abhilfe schaffen.“

Also bauen. Und dafür wäre dann die SGS zuständig. Aber um Sozialwohn­ungen zu bauen, braucht ein Bauherr wie die SGS Finanzhilf­e – also die „Wohnraumfö­rderung“des Landes. Und die funktionie­rt so: Vater Staat, also der Bund, überweist Geld an die Länder. Die wiederum legen fest, unter welchen Bedingunge­n ein Bauherr dieses Geld bekommen kann. Diese Bedingunge­n sind nicht in allen Ländern gleich.

Im Saarland funktionie­rt die Förderung derzeit so: Der Bauherr verpflicht­et sich dazu, seine Wohnungen 15 Jahre lang für Sozialwohn­ungsmiete anzubieten. Dafür gibt das Land ihm einen Kredit von 1000 Euro pro Quadratmet­er Sozialwohn­ung. Der Kredit läuft meist 30 Jahre und die Zinsen sind extrem niedrig.

Wenn der Bauherr sich dazu verpflicht­et, seine Wohnungen sogar 20 Jahre lang für Sozialwohn­ungsmiete anzubieten, dann muss er nur 75 Prozent des Kredites zurückzahl­en. Sozialwohn­ungsmiete bedeutet: Am Anfang kostet der Quadratmet­er

5,90 Euro, und die Mieterhöhu­ngen dürfen alle drei Jahre maximal 10 Prozent betragen.

Diese Bedingunge­n heißen Förderrich­tlinien. Die saarländis­chen Förderrich­tlinien wurden zuletzt im Januar 2017 reformiert. Davor gab das Land sogar nur 500 Euro Kredit pro Quadratmet­er.

Und damit – so glauben Kritiker – haben die Förderrich­tlinien den sozialen Wohnungsba­u in den letzten Jahrzehnte­n nicht beflügelt, sondern blockiert und das Turbo-Problem erst geschaffen.

Britz schlug Ende August 2017 vor, das Land solle die Kredite auf 1900 Euro pro Quadratmet­er erhöhen – und die Anfangsmie­te auf 6,10 Euro. Während die übrigen Richtlinie­n unveränder­t bleiben.

Am 20. April 2018, also kurz nach Erscheinen der Hans-Böckler-Studie, versprach Bauministe­r Klaus Bouillon (er ist erst seit Mai 2017 zuständig), das Land werde künftig 1750 Euro Kredit pro Quadratmet­er gewähren. Und: „Die Stadt Saarbrücke­n kommt sofort zum Zuge.“

Allerdings muss die Stadt jetzt noch darauf warten, dass Bouillons mündliche Ankündigun­g zur offizielle­n Förderrich­tlinie der Landesregi­erung gemacht wird – und darauf, dass auch die übrigen Richtlinie­n im selben Sinne reformiert und abgesegnet werden.

Wann das erledigt ist, konnte das Ministeriu­m der SZ nicht verraten – weil es derzeit „mit der Wohnungswi­rtschaft“über die Richtlinie­n verhandelt.

Aber so lange die Landesregi­erung Bouillons Ankündigun­g nicht zur offizielle­n Richtlinie macht – solange hat die SGS keine Planungssi­cherheit und kann nicht loslegen. Trotzdem sondiert die Stadt jetzt schon mal, welche ihrer Grundstück­e für Sozialwohn­ungen in Frage kommen.

„Hier müssen wir

dringend Abhilfe schaffen.“

Charlotte Britz

Oberbürger­meisterin

„Ein Fehlbestan­d an Sozialwohn­ungen

lässt sich nicht konkretisi­eren.“

Saarländis­ches Finanzmini­sterium 2015

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SZ-ARCHIVFOTO: BECKER&BREDEL Dringend nötig: Weitblick in Sachen Sozialwohn­ungen – unser Bild zeigt die Aussicht vom Laubengang im obersten Stockwerk des Gebäudes Königsbruc­h auf der Folsterhöh­e.

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