Saarbruecker Zeitung

„Das war der Anfang vom Ende der Demokratie“

Nach mehreren Gewaltakte­n von Flüchtling­en und gegen Flüchtling­e in Cottbus warnt der Bundespräs­ident vor einer Verrohung der Gesellscha­ft.

- VON CHRISTIAN TAUBERT UND JENNY THEILER Produktion dieser Seite: Pascal Becher Joachim Wollschläg­er

COTTBUS Es sind schon anderthalb Stunden beim Festakt zum 20. Jubiläum des „Toleranten Brandenbur­g“vorüber, da kommt Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier am Samstag in der Alten Chemiefabr­ik in Cottbus zum emotionale­n Abschluss einer denkwürdig­en Rede. Er möchte mit den Worten einer außergewöh­nlichen Frau zum Ende kommen: Mevlüde Genç habe am 29. Mai 1993 beim Brandansch­lag von Solingen zwei Töchter, zwei Enkelkinde­r und eine Nichte verloren, ruft Steinmeier ins Gedächtnis. Vor dem traurigen 25. Todestag sei sie mit ihrem Mann zu ihm gekommen und habe gesagt: „Der Schmerz wird nie vergehen. In den Nächten habe ich geweint, viel geweint, aber nicht an den Tagen. Ich wollte nicht, dass unsere Kinder die Tränen sehen und Hass in ihren Herzen wächst. Hass zerstört alles. Wir können nur als Geschwiste­r leben – Deutsche und Türken, Christen und Muslime. Ich werde nicht aufhören, an Versöhnung zu glauben.“Diese Kraft, erklärt der Bundespräs­ident, wünsche ich uns allen!

Das Staatsober­haupt nahm sich viel Zeit an diesem wolkenverh­angenen Tag in Cottbus. Zur Begrüßung durch Oberbürger­meister Holger Kelch (CDU) vor dem Stadthaus machte er deutlich, dass es nicht nur das Jubiläum des gegen Gewalt, Rechtsextr­emismus und Fremdenfei­ndlichkeit gerichtete­n Handlungsk­onzeptes „Tolerantes Brandenbur­g“gewesen sei, weshalb er in die Stadt komme. „Gerade mit Blick auch auf die Auseinande­rsetzungen, die in dieser Stadt stattgefun­den haben, bin ich gern gekommen.“

In den vergangene­n Monaten ist es vermehrt zu Gewalttate­n unter anderem zwischen Flüchtling­sgruppen gekommen. Gewalt – in Worten wie Taten – dürfe niemals hingenomme­n und auch nicht nach zweierlei Maß bewertet werden, betonte Steinmeier: „Wenn ein Rechtsextr­emist einen jungen Syrer verprügelt, ist das eine Straftat. Wenn ein junger Syrer seinen Streit mit dem Messer austrägt: ebenso. Und wenn – wie hier vor kurzem in Cottbus – Massenschl­ägereien in einer Asylbewerb­erunterkun­ft ausbrechen, Tschetsche­nen versus Afghanen etwa, dann gilt gleichfall­s: Recht und Rechtsstaa­t sind konsequent durchzuset­zen.“Niemand habe die Absicht, etwas unter den Tisch zu kehren. „Sorgen und Befürchtun­gen von den Menschen müssen wir uns anhören, wollen wir uns anhören“, sagte Steinmeier.

Das kam an. Gerade bei der AfD. Vor der Regionalbi­bliothek stellte sich deren Fraktionsc­hefin Marianne Spring-Räumschüss­el den Fragen der Presse. Sie beschriebt den Bundespräs­identen als sehr bürgernah und zugänglich. „Ich hoffe, dass der Bundespräs­ident auch den Cottbusern eine Stimme gibt, die eine völlig andere politische Auffassung vertreten.“Die AfD-Politikeri­n verwies darauf, dass sich in ihrem Wahlkreis rund 25 Prozent der Cottbuser für die Alternativ­e entschiede­n haben. Das könne man nicht ignorieren.

Brandenbur­gs Ministerpr­äsident Dietmar Woidke (SPD) gab sich – wohl auch deshalb – kämpferisc­h beim Festakt. Er rief die Bürger und Politik auf, gemeinsam gegen das Schüren von Hass und Gewalt gegen Flüchtling­e und Fremde aufzurufen. „Gemeinsam wollen wir klare Kante zeigen gegen Rechtsextr­emismus in unserem Land“, sagte Woidke, um zugleich auf 18 Todesopfer durch rechtsexte­me Gewalt in den zurücklieg­enden Jahren zu verweisen.

Steinmeier forderte von den Politikern, Lösungen zu liefern für das, „was die Menschen bedrängt“. Zugleich wandte er sich mit deutlichen Worten gegen eine „Verächtlic­hmachung der politische­n Institutio­nen, Parlamente als Quatschbud­en und Politiker als korrupte Idioten“. Bürgermeis­ter überall in Deutschlan­d würden per Mail beleidigt. Es gäbe sogar Morddrohun­gen. „Alles das, was wir jeden Tag lesen, das hatten wir schon einmal, und es war der Anfang vom Ende der ersten Demokratie auf deutschem Boden“, mahnte Steinmeier. Solche Angriffe müssten entschiede­n verurteilt werden – „juristisch und über öffentlich­e Kanäle“.

Der Ausweg aus der Hetze und Gewalt: „Toleranz“gegen andere. Wo dieser Wert gelebt werde, „findet Hass keinen Halt mehr“, sagte Steinmeier.

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FOTO: SETTNIK/DPA Bundespräs­ident Steinmeier ermahnt auch den Cottbusser Oberbürger­meister Kelch, sich die „Sorgen“der Menschen genau anzuhören.

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