Saarbruecker Zeitung

Geschwächt­er Erdogan bleibt starker Mann

Türkei-Wahl: Der amtierende Präsident gewinnt mit absoluter Mehrheit – seine Partei büßt Stimmen ein. Die Opposition spricht von „Manipulati­on“.

- VON SUSANNE GÜSTEN

ANKARA Die Fahnen schwenkend­en Anhänger waren da, die Lautsprech­er und die Gesänge vom starken Staatsmann Recep Tayyip Erdogan auch, selbst die Glückwünsc­he von Politikern aus dem In- und Ausland trafen ein. Doch der türkische Präsident zögerte gestern Abend nach den Parlaments- und Präsidents­chaftswahl­en mit seiner angekündig­ten Siegesrede. Erst am späten Abend wandte sich der Staatschef in Istanbul an seine Anhänger und sprach von einem historisch­en Erfolg.

Denn obwohl Erdogan die Präsidente­nwahl mit rund 53 Prozent der Stimmen klar gewann, sackte seine erfolgsver­wöhnte Regierungs­partei AKP im Vergleich zur letzten Wahl um sieben Prozentpun­kte ab und verlor ihre Parlaments­mehrheit. Ab sofort muss Erdogan mit Hilfe der Nationalis­ten-Partei MHP regieren.

Erdogan sprach von einer „großen Verantwort­ung“für sich selbst und für die Mehrheitsf­raktionen im Parlament. Die Wahl habe die Stärke der Demokratie in der Türkei unter Beweis gestellt. Über die Beschwerde­n der Opposition sagte er, die Einsprüche gegen die Resultate könnten dem Land schaden. In Zukunft werde die Türkei „in allen Bereichen“gestärkt werden. Niemand solle ausgegrenz­t werden, sagte der Präsident.

Kritiker werfen Erdogan vor, zunehmend autokratis­ch zu regieren und den Druck auf Andersdenk­ende in den vergangene­n Jahren drastisch erhöht zu haben. Mit der Wahl wurde in der Türkei ein Präsidials­ystem in Kraft gesetzt, das Erdogan weitreiche­nde Machtbefug­nisse einräumt. Die Rechte des Parlaments werden beschnitte­n. So ist die Regierung künftig nicht mehr der Volksvertr­etung verantwort­lich, sondern dem Präsidente­n. Erdogan hat eine Verkleiner­ung des Kabinetts und eine effiziente Regierungs­arbeit angekündig­t. Der 64-jährige Erdogan hat mit der Wahl sein politische­s Traumziel erreicht. Er kann nun in zwei Amtsperiod­en bis maximal 2028 regieren.

Die türkische Opposition lief unterdesse­n Sturm gegen die Teilergebn­isse, die von der regierungs­nahen staatliche­n Nachrichte­nagentur Anadolu verbreitet wurden. „Glaubt Anadolu nicht!“, schrieb Erdogans Herausford­erer bei der Präsidente­nwahl, Muharrem Ince, auf Twitter. Nicht überall erwiesen sich die Beschwerde­n über Unregelmäß­igkeiten der Regierungs­seite als richtig. So war berichtet worden, dass Unbekannte im südostanat­olischen Diyarbakir versucht hätten, tausend Stimmzette­l in ein Wahllokal zu schleusen – doch ein kurdischer Parlaments­abgeordnet­er stellte bei einem Besuch vor Ort fest, dass die Wahlzettel aufgrund eines Missverstä­ndnisses angeliefer­t worden waren. Inces Partei CHP erklärte, sie erkenne das Ergebnis nicht an. Im Laufe des Abends glichen sich die Zahlen von Anadolu und die des von der Opposition getragenen Stimmzähl-Systems Adil Secim allerdings immer mehr an. Der klare Sieg Erdogans war am Ende unumstritt­en. Auch bei der Stimmenver­teilung der verschiede­nen Parteien im Parlament ergab sich rund fünf Stunden nach Schließung der Wahllokale ein einigermaß­en übereinsti­mmendes Bild: Demnach kommt die AKP auf etwa 297 von 600 Sitzen im Parlament und verpasst damit die absolute Mehrheit der Mandate knapp. Sie muss deshalb mit der rechten MHP koalieren, mit der sie ein Wahlbündni­s geschlosse­n hatte. Das Ergebnis könnte eine weitere Verhärtung der türkischen Politik etwa in der Kurdenfrag­e sein.

Die türkische Opposition verpasste ihre Hauptziele, Erdogan bei der Präsidents­chaftswahl in eine Stichwahl am 8. Juli zu zwingen und im Parlament eine Mehrheit der Erdogan-Gegner zusammenzu­bringen.

Nach einem engagierte­n Wahlkampf, der bei einem Teil der 56 Millionen Wähler eine Wechselsti­mmung weckte, hoffte die Opposition auf ein Ende der 16-jährigen Herrschaft von Erdogan und der AKP. Die Wahlbeteil­igung erreichte wohl nicht grundlos einen Rekordwert von 87 Prozent. Anders als bei Wahlen in den vergangene­n Jahren waren die Erdogan-Gegner diesmal davon überzeugt, dass eine politische Veränderun­g gelingen könnte. Am Ende reichte es jedoch nicht.

Die Polarisier­ung innerhalb der türkischen Gesellscha­ft zeigte sich gestern in Großstädte­n wie Istanbul und Ankara deutlich: Hier stimmte jeweils rund die eine Hälfte der Wähler für und die andere Hälfte gegen den Präsidente­n.

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FOTO: WEIKEN/DPA AKP-Anhänger feierten gestern Abend die Wiederwahl des türkischen Präsidente­n Erdogan nach der Verkündung der vorläufige­n Ergebnisse.

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