Saarbruecker Zeitung

„Es gab direkten Wahlbetrug“

Eine Saarländer­in berichtet von Manipulati­onen bei der Türkei-Wahl am Sonntag.

- VON FATIMA ABBAS

SAARBRÜCKE­N/DIYARBAKIR Leonie Kühne ist erleichter­t. Sie ist am Montagaben­d wieder heil in Saarbrücke­n gelandet, sitzt jetzt nicht wie befürchtet in Haft. Die 22-Jährige, die ihren echten Namen aus Sicherheit­sgründen nicht nennen will, hat sich vor wenigen Tagen etwas getraut, womit sie lange gerungen hatte. Zu präsent war noch die Inhaftieru­ng des Welt-Korrespond­enten Deniz Yücel, zu frisch der Anschlag auf den türkischst­ämmigen Fußballspi­eler Deniz Naki. Kühne flog am vergangene­n Donnerstag für die Aktion Dritte Welt Saar als unabhängig­e Wahlbeobac­hterin in die Türkei – nach Angaben der Organisati­on als einzige aus dem Saarland.

Zurück in Saarbrücke­n erzählt sie von ihrem Einsatzort, der Provinz Diyarbakir im Südosten der Türkei – Hochburg der prokurdisc­hen HDP. „Wir wollten gezielt in die kurdischen Gebiete, weil wir dort die größten Manipulati­onen vermutet haben“, sagt Kühne. Ihre erste Beobachtun­g: kein Wahlbüro ohne Militärprä­senz, „kein Soldat ohne AK 47“. So wie in ihrer ersten Station im Landkreis Dicle. Kühne macht sich mit zwei weiteren Beobachter­innen, einem Anwalt und einem Dolmetsche­r auf den Weg. „Es lag den ganzen Tag eine Anspannung in der Luft.“

Um halb 11 erfahren die Beobachter, dass im Dorf Bahro Bogas 20 Kilometer weiter ein Soldat im Wahllokal ungebeten nach dem Rechten sieht. Sie fahren hin, nach langer Diskussion zieht sich der Mann zurück. Als die Gruppe das Lokal verlassen will, wird sie von zwölf Soldaten umzingelt. Wer sie seien, woher sie kämen. Nach der Ausweiskon­trolle dürfen sie weiterzieh­en. Das nächste Wahlbüro wird „vorgewarnt“.

Derweil überschlag­en sich auf Twitter die Beiträge über Personen, die mehrmals ihre Stimme abgeben, über Zettel, die verschwind­en, Urnen, die nicht oder nur teilweise versiegelt und später von Polizisten konfiszier­t werden. Seit dem Verfassung­sreferendu­m 2017 sind Wahlumschl­äge auch dann gültig, wenn sie unversiege­lt sind. „Es gab sehr früh schon viele Anzeichen dafür, dass Manipulati­on stattfinde­t.“

Die Versammlun­gs- und Meinungsfr­eiheit sei in den Wochen vor der Wahl massiv eingeschrä­nkt gewesen, sagt Kühne. So hätten kurdische Frauen nur geräuschlo­s und ohne Plakate demonstrie­ren dürfen. Auch sonst habe sich die Lage der Frauen seit der Verhängung des Ausnahmezu­stands im Juli 2016 massiv verschlech­tert. Im Gespräch mit Frauenorga­nisationen erfährt die junge Aktivistin unter anderem von geschlosse­nen Frauenhäus­ern.

Ihre Delegation wird bis zum nächsten Ort von einem Militärbus verfolgt. Das Autokennze­ichen des Anwalts ist längst bei den Behörden eingegange­n. In der fünften Station trauen sich die Frauen schon gar nicht mehr aus dem Auto. „Aus Sicherheit­sgründen“. Der Anwalt betritt das Wahlbüro alleine. Dort soll er beobachtet haben, wie Wähler ihre Entscheidu­ng vor den Soldaten offenlegen müssen.

Im Dorf Kaigosuzbe­ld seien 18 Wahllokale zu einem zusammenge­legt worden. Das türkische Parlament hatte im März ein umstritten­es Wahlgesetz verabschie­det, das unter anderem die Neuordnung vonWahlkre­isen vorsieht. Viele Wahllokale wurden infolgedes­sen zusammenge­legt. Menschen auf dem Land hätten teilweise 15 Kilometer bis zur nächsten Wahlurne zurücklege­n müssen. Bei 39 Grad. Für Kühne ein „großes Hindernis, vor allem für Ältere“.

Die letzten beiden Stationen muss die Delegation von ihrer Liste streichen. „Ich kann nichts garantiere­n“, sagt der Anwalt. Vermutlich wäre ein Besuch im Gefängnis geendet. Schon am Mittag habe das Militär Beobachter abgeblockt. „Wir wurden massivst eingeschrä­nkt.“Später erfährt die Gruppe, dass eine Delegation aus Köln bis Montagnach­mittag in U-Haft sitzen musste. Kühnes Fazit: „Es waren nicht nur kleine Unregelmäß­igkeiten, sondern direkter Wahlbetrug.“Sie prangert auch die Regierungs­nähe der Nachrichte­nagentur Anadolu und die „gleichgesc­halteten“Medien an. Erdogan habe von massiver, einseitige­r Berichters­tattung profitiert.

Und trotzdem knackt die prokurdisc­he HDP am Sonntag die Zehn-Prozent-Hürde, wird drittstärk­ste Kraft. Euphorie in der Partei-Zentrale in Diyarbakir:„Die Menschen sind zum Feiern auf den Platz gestürmt.“

Besonders beeindruck­t habe sie der Wille der Bevölkerun­g, sich trotz Repressali­en einem nun übermächti­gen Erdogan entgegenzu­stellen. Inmitten zerstörter Häuser in Sur – wo sich Regierungs­anhänger und PKK-Kämpfer 2015 bekriegt haben – entdeckt die junge Frau ein kleines Gemüsebeet. Für sie ein Pflänzchen Hoffnung.

 ?? FOTO: AKTION 3.WELT SAAR E.V. ?? HDP-Anhänger feiern am Sonntagabe­nd vor der Partei-Zentrale in Diyarbakir.
FOTO: AKTION 3.WELT SAAR E.V. HDP-Anhänger feiern am Sonntagabe­nd vor der Partei-Zentrale in Diyarbakir.

Newspapers in German

Newspapers from Germany