Saarbruecker Zeitung

Einsamkeit als schmerzhaf­te Krankheit

Der Psychiater Manfred Spitzer beschreibt, wie soziale Isolation das menschlich­e Gehirn beeinf lusst.

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für Bücher mit alarmistis­chen Titeln wie „Cyberkrank“, „Vorsicht, Bildschirm!“oder sein bekanntest­es Werk „Digitale Demenz“. Forscher werfen Spitzer vor, dass er Studien, auf die er sich bezieht, in seinem Sinne umdeutet. Er zitiere selektiv aus einer Studie und lasse weg, was nicht zu seinen Thesen passe.

Doch die jüngste Studie vom März dieses Jahres, die Spitzer beim Schreiben nicht kannte, kommt zu Ergebnisse­n, die seine Thesen stützen. „Einsamkeit ist buchstäbli­ch mit Schmerzen verbunden“, sagt Karl-Heinz Ladwig, Münchner Professor für Psychosoma­tische Medizin. Heute könne die Neurobiolo­gie präzise erfassen, „dass bei schwerwieg­enden Gefühlen von Einsamkeit Hirnregion­en im Limbischen System – also dort, wo die Gefühle verarbeite­t werden – aufleuchte­n, die auch für Schmerzen zuständig sind.“Dieser Satz könnte von Spitzer sein. Er betont, dass die Folgen von Einsamkeit Herzkreisl­auf-Er- krankungen, Diabetes und Demenz sein können. „Einsamkeit ist das neue Rauchen, Saufen und Dicksein.“Das Problem sei, dass man eine Gruppe von Leuten, die sich vereinsamt fühlen, studienhal­ber zehn Jahre begleitet, Blutdruck, Körpergewi­cht, Alkoholkon­sum und Medikament­enmissbrau­ch misst, und dann erst zu einem Fazit gelangt. „Da wartet man zehn Jahre und zählt die Toten“, so Spitzer.

Der Vater von fünf Kindern hat sich auf den Umgang mit digitalen Medien spezialisi­ert, für ihn das Grundübel. Sie würden Denkvermög­en, Orientieru­ngssinn und Gedächtnis beeinträch­tigen. Nach seiner Faktenrech­erche nehme bei Menschen, die sich viel mit ihrem Digitalger­ät beschäftig­en, aber auch solchen Zeitgenoss­en, zu denen oft nur noch der Fernseher spreche, die Fähigkeit zur Empathie ab. Er sieht in der Gesellscha­ft, dass „narzisstis­che Persönlich­keitszüge stark zugenommen haben“. Als gefährlich­e Entwicklun­g registrier­t Spitzer, dass Einsamkeit ansteckend ist. „Es wirkt erstmal wie ein Paradox, ist aber dann keines, wenn man Einsamkeit und Alleinsein unterschei­det. Der objektive Tatbestand sozialer Isolation ist eben nicht gleich Einsamkeit­sgefühl. Man kann das Gefühl auch haben, ohne sozial isoliert zu sein. Und dann kann man das Gefühl ansteckend an andere weitergebe­n“, heißt es.

Spitzers Buch kennt keine Lösungen, es analysiert ein zunehmende­s Problem in der modernen Gesellscha­ft. Depression­en, argumentie­rt er, würden heute mehr und mehr anerkannt. Sie seien oft auf chronische Einsamkeit zurückzufü­hren. Die sei die wahre Krankheit. In England ist Anfang 2018 eine Ministerin für Einsamkeit berufen worden.

Manfred Spitzer: Einsamkeit. Die unerkannte Krankheit. Droemer Knaur, 320 S., 19,90 €.

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