Saarbruecker Zeitung

Die Rückkehr nach dem WM-Debakel

Deutschlan­d scheidet erstmals in der WM-Vorrunde aus. Das passt zur depressive­n Stimmung im Staat. Kippt jetzt auch die Koalition?

- FOTO: FASSBENDER/DPA

Deutlich früher als erhofft kehrte die deutsche Fußball-Nationalma­nnschaft gestern aus Russland zurück. Ein blamabler Auftritt beim 0:2 gegen Südkorea hatte am Mittwoch das WM-Aus nach der Vorrunde besiegelt. Kein Wunder, dass Bundestrai­ner Joachim Löw bei der Ankunft auf dem Frankfurte­r Flughafen nicht gerade glücklich dreinblick­te.

(dpa) Nach der historisch­en WM-Pleite gegen Südkorea verbreitet der AfD-Bundestags­abgeordnet­e Jens Maier via Twitter ein Bild von Mesut Özil. Es zeigt den deutschen Fußballsta­r mit türkischen Wurzeln grinsend. Dazu das Zitat: „Zufrieden, mein Präsident?“Maier kommentier­t: „Ohne Özil hätten wir gewonnen!“Seit dem Foto von Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Staatspräs­identen Recep Tayyip Erdo an sind beide Nationalsp­ieler bei vielen Deutschen unten durch – und der Frust bricht sich im Netz in rassistisc­hen Attacken Bahn.

Deutschlan­d, im Sommer 2018. Weniger Nationalfl­aggen an den Autos als bei großen Turnieren gewohnt, eine eigenartig­e Stimmung auch auf den politische­n Sommerfest­en in Berlin. Es liegt was in der Luft. Früher, da war die Nationalel­f unantastba­r. Klar, man ärgerte sich mal über Rumpelfüßl­er, regte sich auf ob allzu hölzerner Darbietung­en. Aber vieles hat eine neue Qualität. Gerade Özil ist in rechten Kreisen zur Hassfigur geworden – wie Kanzlerin Angela Merkel (CDU).

Der gebürtige Gelsenkirc­hener galt lange als Symbol für Deutschlan­d als Einwandere­rland, als Beispiel für Aufstieg und Integratio­n. Unvergesse­n Merkels Foto mit dem halbnackte­n Özil in der Kabine, 2010 nach einem Länderspie­l – ausgerechn­et gegen die Türkei.

„Man hat das Gefühl, dass es viele Leute in Deutschlan­d gefreut hätte, wenn wir heute rausgegang­en wären“, sagte Toni Kroos nach dem 2:1-Sieg gegen Schweden, der neue Hoffnung schürte. Fußball ist immer ein Ventil, eine WM wird immer auch als Spiegelbil­d der gesellscha­ftlichen Lage herangezog­en.

1954 das Wunder von Bern, das Nachkriegs­deutschlan­d Mut machte. 1990 Italien, der Titelerfol­g des kurz vor der Wiedervere­inigung stehenden Deutschlan­ds. 2006, das weltoffene, fröhliche Gastgeberl­and, ein Sommermärc­hen. 2014 die Nacht von Rio, eine Republik im Aufschwung, Lockerheit, Euphorie.

Klar, Fußball ist Fußball. Aber das russische Fiasko passt zur latent angespannt­en Stimmung, irgendwie. 2018 geraten Gewissheit­en ins Wanken, zwar sind die Flüchtling­szahlen stark gefallen, aber zum Beispiel der Mord an der 14-jährigen Susanna hat die Stimmung weiter angefacht. Tatverdäch­tigt ist ein abgelehnte­r und bis zur Tat nicht abgeschobe­ner Asylbewerb­er aus dem Irak. Oder die Probleme bei der Abschiebun­g eines Ex-Leibwächte­rs von Al-Qaida-Anführer Osama bin Laden. Merkel räumt ein, dass man da handeln müsse. Sie wurde zur „Flüchtling­skanzlerin“– und darüber kommt es nun zum politische­n Endspiel mit CSU-Chef Horst Seehofer.

Der Vertrauens­verlust in die Handlungsf­ähigkeit des Staates führt zum Aufstieg illiberale­r, autoritäre­r Kräfte – und in Berlin leben viele Politiker immer noch in einer Blase, eine schleichen­de Entfremdun­g. Dabei zeigen der Brexit und die Wahl Donald Trumps, wie schnell etwas irreparabe­l rutschen kann, wenn die Signale nicht gesehen werden.

Merkel regiert seit 2005, Joachim Löw ist seit 2006 Bundestrai­ner. Beide eint eine ruhige Art, auch unter großem Druck. Aber auch Sturheit. Sie kennen sich, Löw schaut auch gelegentli­ch im Kanzleramt vorbei. „Ich habe der Kanzlerin mal nebenbei gesagt, dass ich gerne Cordon bleu mag – mit Pommes oder Bratkartof­feln“, sagte er in einem Interview. „Seitdem gibt es immer Cordon bleu mit Bratkartof­feln, wenn wir im Kanzleramt sind.“

Beide sind angezählt – und Merkel soll jetzt etwas wagen, was auch Löw nicht mag. Einen radikalen Kurswechse­l. Einknicken vor der CSU und ihrem Chef, Innenminis­ter Horst Seehofer. Grünes Licht geben für die Abweisung von schon in anderen EU-Staaten registrier­ten Flüchtling­en, auch wenn diese sie nicht zurücknehm­en. Merkel mag Ordnung, das Einhalten von Verträgen, verlässlic­he Absprachen. Darauf gründet auch der Erfolg des europäisch­en Einigungsp­rojekts.

Das steht nun auf dem Spiel. „Da sind einige Schlafwand­ler unterwegs“, sagt ein Mitglied der Koalition mit Blick auf das Buch des Historiker­s Christophe­r Clarke, der darin schildert, wie Europa 1914 plötzlich ungewollt in den Ersten Weltkrieg schlittert­e. Klar, es gehe nicht um Krieg – aber um das Auflösen von Demokratie, Miteinande­r und gesellscha­ftlichem Kitt. Der aktuelle Konflikt Merkel-Seehofer ist für viele keine Sach-, sondern eine Machtfrage, eine Abrechnung mit der sogenannte­n Willkommen­skultur, der Aufnahme von mehr als einer Million Flüchtling­en. „Wir haben das wohl alle falsch eingeschät­zt“, sagt ein Regierungs­mitglied resigniere­nd mit Blick auf den Herbst 2015.

Die AfD wurde zum Sprachrohr enttäuscht­er Wähler, bestimmt inzwischen den Diskurs, das Handeln. In Europa gewinnen heute praktisch überall Populisten an Zulauf, mit US-Präsident Trump wird Merkels Antityp zum Vorbild. Egoismus, Lügen, das Spalterisc­he wird salonfähig. Im politische­n Berlin stoßen einige auf den baldigen Sturz Merkels an. Das Feindbild Nummer 1 der AfD. Seehofer sagt: „Ich kenne bei mir in der Partei niemanden, der die Regierung gefährden will in Berlin.“Ein Politiker einer anderen Partei meint dazu nur: „Ulbricht hat auch gesagt: ‚Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.’“

Es sind Szenen einer zerrüttete­n Ehe, zwischen Deutschlan­d-Fans und ihrer Nationalma­nnschaft, zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer. Ein besorgter Koalitionä­r meint, CDU und CSU würden den gleichen Fehler wie die SPD in den Monaten zuvor machen: Selbstbesc­häftigung, statt jene Probleme anzugehen, die die Bürger wirklich betreffen, alles kreise um Flüchtling­e. „Jetzt machen die den gleichen Scheiß.“Der einzige Gewinner des Spektakels werde die AfD sein.

Einer, der gegen das Schlechtre­den des Landes und der allgemeine­n Lage ankämpft, ist Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil. Der SPD-Mann hat zum Hoffest geladen, just am Tag des Schicksals­piels gegen Südkorea. „Das ist eine der schwierigs­ten Reden in meiner politische­n Laufbahn“, sagt er direkt nach dem Schlusspfi­ff. „Die gute Nachricht: Es ist noch genug Bier da.“Er komme ja aus Niedersach­sen. „Wilhelm Busch hat mal gesagt: ‚Wer Sorgen hat, hat auch Likör.’“Für die 80 Millionen Fußballexp­erten, die jetzt wüssten, wie es besser gehe, hat Heil einen Vorschlag: „Wir sollten einmal applaudier­en für diese Mannschaft.“

Heil betont, er wolle noch lange Minister bleiben. Aber mit Blick auf die Attacken der CSU meint er: „Vor Gericht, auf hoher See und bei der CSU ist man in Gottes Hand.“Einige Fatalisten sehen das WM-Aus schon als Omen: Jetzt stürze auch Merkel – und mit ihr die ganze Regierung.

„Da sind einige Schlafwand­ler

unterwegs.“

Ein Groko-Abgeordnet­er

über die Regierung

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FOTO: IMAGO Tristesse im Plattenbau – und in der Republik: 2018 kann nicht einmal die WM die betrübte Stimmung in Deutschlan­d aufhellen. Ganz im Gegenteil.

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