Saarbruecker Zeitung

Italien blockiert Gipfel-Beschlüsse wegen Asylstreit

Die Kanzlerin tritt im Bundestag sehr energisch auf. Doch die CSU applaudier­t nicht. Horst Seehofer fehlt gleich ganz.

- VON WERNER KOLHOFF

(afp/dpa) Wegen des Streits um die Migrations­frage hat Italien gestern Abend beim EU-Gipfel in Brüssel Entscheidu­ngen in anderen Bereichen verhindert. Aus Regierungs­kreisen hieß es, das Land werde kein grünes Licht zu Beschlüsse­n jeglicher Art geben, solange es „keine Vereinbaru­ng zu allem“einschließ­lich der Migration gebe. Der zweitägige EU-Gipfel hatte am Nachmittag mit Beratungen zur Verteidigu­ng, der Handelspol­itik und den EU-Finanzen begonnen. Dazu sollten ursprüngli­ch am Abend Beschlüsse gefasst werden.

Derweil warnte Österreich­s Bundeskanz­ler Sebastian Kurz (ÖVP) Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) vor der Umsetzung seiner Pläne zur Zurückweis­ung von Migranten. Wenn Deutschlan­d an seinen Grenzen entspreche­nde Maßnahmen ergreife, werde Österreich „notgedrung­enerweise“auch handeln, sagte er. Dazu würden auch „Handlungen“an der österreich­isch-deutschen Grenze zählen.

Wo ist Horst Seehofer? Am Vorabend war er noch in der TV-Sendung „Maischberg­er“, doch nun, da es im Bundestag um sein Thema geht, fehlt der CSU-Chef. „Der Innenminis­ter arbeitet im Haus und hat Termine“, lässt seine Sprecherin wissen. Er verpasst eine Kanzlerin, die offenbar nicht nachgeben will. Auch ihm nicht.

Angela Merkels (CDU) Gestik spricht Bände. Ganz am Ende ihrer Regierungs­erklärung zum bevorstehe­nden EU-Gipfel ballt sie die rechte Faust. „Europa hat viele Herausford­erungen“, sagt sie und schiebt ihr Manuskript zusammen. „Aber die mit der Migration könnte zu einer Schicksals­frage werden.“Merkel fährt den Zeigefinge­r raus und wird nun grundsätzl­ich: „Entweder wir bewältigen das, und zwar so, dass man auch in Afrika und anderswo glaubt, dass uns Werte leiten und dass wir auf Multilater­alismus und nicht auf Unilateral­ismus setzen. Oder aber niemand wird mehr an unser Wertesyste­m glauben, das uns so stark gemacht hat.“Dann tritt sie ab. Sie trägt einen grünen Blazer. Grün ist die Hoffnung.

Beifall bei der ganzen CDU und bei der SPD. Aber bei keinem Abgeordnet­en der CSU. In diesem Moment ist die Fraktionsg­emeinschaf­t der beiden Schwesterp­arteien auch nach außen sichtbar zerbrochen. Ob das so bleibt, wird sich am Sonntag entscheide­n, wenn die Parteigrem­ien in München und Berlin zu getrennten Sitzungen zusammenko­mmen, um auszuwerte­n, was Merkel in Brüssel erreicht hat. Möglich, dass es ihre letzte Regierungs­erklärung als Kanzlerin war.

Die Züge fahren weiter aufeinande­r zu. Markus Söder, Bayerns neuer Ministerpr­äsident, hat erst vorletzte Woche gesagt, dass die Zeit des geordneten Multilater­alismus vorbei sei. Das ist genau das Gegenteil von Merkels Position. Und im Bundestag wiederholt CSU-Landesgrup­penchef Alexander Dobrindt diesen Standpunkt im Grunde: „Europäisch­e Lösungen und nationale Maßnahmen gehören zusammen“, erklärt er mit recht ruhiger Stimme. „Wir bleiben dabei, dass wir jetzt auch die Anwendung des geltenden Rechts an unseren Grenzen umsetzen müssen.“Es ist die Ankündigun­g, dass Horst Seehofer ab nächster Woche Zurückweis­ungen von Flüchtling­en an den Grenzen anordnen wird. Die Kanzlerin betont im Bundestag hingegen, dass solche Zurückweis­ungen „nicht unabgestim­mt, sondern im Gespräch mit unseren Partnern“vorgenomme­n werden dürften. Sie könnte Seehofer entlassen, falls er eigenmächt­ig handelt.

Fast schon flehentlic­h versucht Merkel den Abgeordnet­en deutlich zu machen, dass man doch schon sehr weit gekommen sei bei der Bewältigun­g der Flüchtling­skrise. Fünf von sieben Punkten des europäisch­en Migrations­konzeptes seien Konsens, und auch beim Gipfel werde es weitere Fortschrit­te gebe. Die Flüchtling­szahlen in der Ägäis seien seit 2015 um 97 Prozent, im Mittelmeer um 77 Prozent gesunken. Immer wieder gibt es Zwischenru­fe von der AfD, auf die die Kanzlerin kaum reagiert. „Mein Gott“, sagt sie einmal spöttisch. Ihre Ansprache richtet sich an die eigenen Leute, vor allem an die CSU. Für die ist wohl auch jene Passage gedacht, in der sie den Mordfall Susanna und andere Asylskanda­le aufgreift. „Das sind Zustände, mit denen wir uns nicht abfinden können“, ruft Merkel aus und ergänzt: „Der Bundesinne­nminister hat die Punkte, wo es Handlungsb­edarf gibt, richtigerw­eise zusammenge­stellt.“Sie meint Seehofers „Masterplan Migration“, den freilich im Parlament keiner kennt.

Seehofer hört das Lob nicht, alles Werben ist vergeblich. Die CSUler im Saal bleiben stumm. Sie ernten dafür Häme und Wut von der Opposition. „Sie wollen Merkel weghaben“, ruft die Grüne Katrin Göring-Eckardt direkt in Richtung Dobrindt, als sei sie die Schutzpatr­onin der Kanzlerin. Und dann hört man von ihr noch erzieheris­che Sätze wie „Schreiben Sie sich das hinter die Ohren“und „Besinnen Sie sich“. Sahra Wagenknech­t von den Linken fragt die Christsozi­alen: „Nehmen Sie überhaupt noch war, dass es eine Welt außerhalb von Bayern gibt?“und FDP-Mann Christian Lindner zieht den Vergleich mit dem Brexit. „Aus höchsten Staatsämte­rn heraus die Stimmung anheizen, das ist die Methode (des früheren britischen Premiers) Cameron.“Der wollte bekanntlic­h nicht, dass es so ausgeht, wie es ausgegange­n ist. Aber was will Seehofer?

Möglich, dass es Merkels letzte Regierungs­erklärung

als Kanzlerin war.

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FOTO: VON JUTRCZENKA/DPA Vor ihrer Abreise nach Brüssel zum EU-Gipfel gab Bundeskanz­lerin Angela Merkel gestern im Bundestag eine engagierte Regierungs­erklärung.

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