Saarbruecker Zeitung

„Durch Selbstgefä­lligkeit kann man ganz schnell ganz tief fallen“

Der Magdeburge­r Politikpsy­chologe empfindet das deutsche WM-Aus als „Blamage“– die hausgemach­t ist. Die große Koalition warnt er vor Parallelen.

- DAS INTERVIEW FÜHRTE HAGEN STRAUSS. Produktion dieser Seite: Pascal Becher Gerrit Dauelsberg

Das WM-Aus der Nationalma­nnschaft ist eng mit der Stimmung im Land verbunden, sagt Thomas Kliche, Politikpsy­chologe der Hochschule Magdeburg-Stendal. Die Blamage zeige, was man bei Gruppenauf­gaben vermeiden müsse.

Herr Kliche, passt das WM-Aus der Nationalma­nnschaft zur Stimmung im Land?

KLICHE Ja. Es erinnert uns an eine bittere Lebenswahr­heit, die viele ausblenden wollen: Man kann durch Selbstgefä­lligkeit ganz schnell ganz tief fallen. Das war schaumgebr­emstes Spiel in Schonhaltu­ng, in Zeitlupe. Die Blamage ist die wohlverdie­nte Strafe für eine miese, grotesk überbezahl­te Leistung. Wir sehen, was wir bei Gruppenauf­gaben vermeiden müssen: eingebilde­te Größe, Bequemlich­keit und daraus folgend schlechte Arbeit und kurzfristi­ges Herumtakti­eren.

Sehen Sie auch Parallelen zwischen Jogi Löw und Angela Merkel?

KLICHE Oberflächl­ich gesehen, sollen beide eine Leistungsg­ruppe steuern und zu einer Gemeinscha­ft verschmelz­en, die für uns Zuschauer etwas leistet und ein gutes Gefühl verschafft. Aber die Spiele sind doch sehr unterschie­dlich.

Inwiefern?

KLICHE Im Sport gibt es klare Leistungsz­iele, nämlich Tore, überschaub­are Spielfelde­r, Regeln für Fairness und die Schiedsric­hter als Wächter. Das findet sich vielleicht noch in manchen Talk-Shows, aber die Moderatore­n sind ja selbst schon von Schiedsric­htern zu Spielern geworden, zu recht eitlen übrigens. Politik ist wie eine Mischung aus Fußball, Schach, Poker, Kickboxen, Jura-Grundstudi­um und Laufsteg – aber alles ohne Schiedsric­hter, und die Spieler müssen auch noch die Spielfelde­r selbst bestimmen, immer lächeln und Haltung bewahren.

Aber weder die Politik noch der Fußball können ohne Leidenscha­ft funktionie­ren, oder?

KLICHE Zumindest beobachten wir eine neue Gefühlspol­itik, wie bei den Trump- oder Brexit-Wählern, aber ohne Leidenscha­ft. In Deutschlan­d lässt sich bei vielen Menschen weggedrück­te Angst feststelle­n, sodann unklare Lösungswün­sche an die Politik, verbunden mit Wut auf deren Grenzen und Schwächen, weiter Träume von einer guten alten Heimatzeit, und bei manchen auch Gruppenübe­rheblichke­it und sogar genussvoll­er Hass. Gute Politik braucht aber eine anhaltende, moralisch gespeiste Leidenscha­ft: Handlungsb­ereitschaf­t für hohe Werte, Vernunft und eine menschlich­e Gesellscha­ft.

Wird in Deutschlan­d nicht auch zu viel gemeckert? Die Bundesrepu­blik steht doch gut da.

KLICHE Nein, und das spüren die Menschen. Die Wirtschaft läuft gut. Aber wir alle haben die Erdstöße gespürt – Flüchtling­e, Plastikins­eln im Meer, Gift im Grundwasse­r, schmelzend­e Polkappen, Extremwett­er, überschuld­ete Staaten, gierige Banken, Kinderarmu­t, autoritäre und aggressive Regierunge­n weltweit, manipulati­ve Datenkonze­rne, die nicht mal Steuern zahlen. Wir müssen Zukunft langfristi­g gestalten, so lange wir noch den Spielraum haben. Dafür war unsere Gesellscha­ft bislang zu bequem.

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FOTO: IMAGO Psychologe Kliche findet: Gute Politik braucht Leidenscha­ft.

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