Saarbruecker Zeitung

Brasiliens WM-Torhüter hat saarländis­che Wurzeln

Der Fußball hat Brasilien eine Identität gegeben. Daran waren auch Saarländer beteiligt, die ihre Heimat verließen, um neues Glück zu suchen.

- VON BODO BOST

SAARBRÜCKE­N/NOVO HAMBURGO Der Torhüter der brasiliani­schen Fußball-Nationalma­nnschaft hat einen sehr deutschen Familienna­men. Er heißt Alisson Becker. Dieser Name kommt nicht von ungefähr: Seine Ahnen waren im 19. Jahrhunder­t aus dem Saarland nach Südbrasili­en ausgewande­rt, sie gehörten zu den Gründern des Ortes Novo Hamburgo, wo Alisson, wie der Torhüter der Nationalel­f und des AS Rom nur genannt wird, 1992 zur Welt kam. Der Vater von Alisson, Jose Agostinho (55), spricht noch Deutsch.

1824 entstand in der Nähe des deutschen Siedlungsz­entrums São Leopoldo am Sinos-Fluss in Südbrasili­en ein blühendes Dorf, das die Kolonisten „Hamburger Berg“nannten, da es auf einem Hügel lag und die eingewande­rten Kaufleute aus Hamburg waren. Schon 1857 wurde das Dorf Pfarrsitz, und 1876 verband die erste Eisenbahn in Rio Grande do Sul die Hauptstadt Porto Alegre mit dem aufblühend­en Ort. Die Endstation lag am Fuße des „Hamburger Bergs“, man nannte sie „Novo Hamburgo“, also Neu-Hamburg. Neben der Handelstät­igkeit hatte sich um die Mitte des vorigen Jahrhunder­ts eine rege Industrie entwickelt. Im Besonderen waren es Ledererzeu­gnisse, Sättel, Zuggeschir­re und Lederpanto­ffeln. Gründer der Lederindus­trie in Novo Hamburgo war der im Jahre 1797 aus Mettnich/Saar eingewande­rte Nikolaus Becker.

Nikolaus war der zweite Sohn von Peter Becker und Anna Maria Recktenwal­d. Er überquerte den Ozean als einer der ersten Saarländer mit dem Dreimaster Olbers und traf am 17. Dezember 1828 in Rio de Janeiro ein. Von dort segelte er weiter nach São Leopoldo, im Bundesstaa­t Rio Grande do Sul, dem Zentrum der deutschen Einwanderu­ng, wo er sich niederließ und eine Gerberei und eine Sattlerei gründete. Am 24. Juni 1829 heiratete er Angela Krämer, mit der er bereits zusammen ausgewande­rt war und die ebenfalls aus Mettnich stammte. Mit ihr hatte er zehn Kinder. In Novo Hamburgo, das heute fast 300 000 Einwohner hat, trägt eine der Hauptstraß­en den Namen Avenida Nicolau Becker. Laut dem aus Theley stammenden brasiliani­schen Heimatfors­cher Leopold Petry hat Nikolaus Becker die erste Gerberei und Sattlerei in der Region gegründet, die heute ein Zentrum der Leder- und Schuhindus­trie geworden ist. Der Vater von Alisson Becker, Jose, arbeitet bis heute in der Schuhindus­trie.

In Rom, wo Allison Becker seit zwei Jahren beim Club AS spielt, nennen sie ihn „den Deutschen“. „Solide, rational, kalt kalkuliere­nd“, schrieb die Zeitung „La Repubblica“ über den 1,93 Meter großen Torwart. Alissons Paraden haben dem AS Rom nach 34 Jahren in ein Champions-League-Halbfinale befördert. Der streng katholisch­e Alisson ruht in seinem unerschütt­erlichen Selbstbewu­sstsein.

Die brasiliani­sche Auswahl hätte bei der WM in Russland gerne das 1:7 gegen Deutschlan­d von 2014 wettgemach­t: „Mein Land kann seit vier Jahren nicht schlafen. Es geht nicht um verletzte Eitelkeit, sondern um Identität. Ein Spieler kann so etwas vergessen, denn er hat das nächste Spiel, um mit sich selbst wieder ins Reine zu kommen. Aber ein Fußballvol­k wie Brasilien nicht“, erklärt Alisson. Auch sein älterer Bruder Muriel Gustavo Becker ist ein internatio­nal anerkannte­r Torhüter. Zudem stammt der bekannte brasiliani­sche Torhüter Marcelo Grohe aus Novo Hamburgo, weshalb man diese Stadt jetzt auch als das Zentrum der brasiliani­schen Torhüter bezeichnet.

Und ein weiterer Saarländer brachte den brasiliani­schen Fußball voran. Elemar Scheid wurde am 17. Januar 1936 in Lajeado in Rio Grande do Sul als Sohn von Jakob Scheid geboren, der 1890 aus Sotzweiler nach Brasilien ausgewande­rt war. 1962 feierte Elemar in Sotzweiler am Ende seines Theologies­tudiums in Rom seine Primiz. Von dort war er als Priester nach Brasilien zurückgeke­hrt und hatte im Auftrag seines Ordens eine Pfarrei in Jaraguá do Sul im Bundesstaa­t Santa Catarina übernommen.

Einen Fußballver­ein gab es damals in der Stadt (25 000 Einwohner) noch nicht. Die Jugendlich­en trafen sich daher im Pfarrhaus von St. Sebastian und kickten auf dem Vorplatz der Kirche. Pater Scheid erkannte das Potenzial des Fußballs, Jugendlich­e von der Straße zu holen. Er besorgte einen Platz, wo sie trainieren konnten, aber nur unter der Bedingung, dass sie einmal in der Woche seinen Unterricht in Gesellscha­ftskunde besuchten, er wollte aus den Fußballern auch Motoren der Pfarrgemei­nde machen. Am 1. Mai 1966 gründete Elemar Scheid in seiner Pfarrei São Sebastião einen Theaterklu­b mit Namen Juventus. Diesem Klub wurde wenig später auch ein Fußballclu­b, Grêmio Esportivo Juventus, angegliede­rt.

Für seinen Fußballclu­b fand er schnell Mitstreite­r. Entscheide­nd war hier die italienisc­hstämmige Unternehme­rfamilie Marcatto, die bereits für ihre Arbeiter ein eigenes Betriebsst­adion gebaut hatte, wo der von Elemar Scheid gegründete Verein trainieren konnte. Aus einem Freizeitcl­ub wurde ein Fußballclu­b, der den Vereinssta­tus erlangte und begann, in einer Liga zu spielen. Erste Spieler wurden eingekauft. Sie wohnten im Pfarrhaus und waren offiziell Mitarbeite­r der Firma Marcatto.

Als Pater Scheid 1978 als Pfarrer nach Rio de Janeiro versetzt wurde, stand sein Fußballver­ein auf eigenen Füßen, er hatte längst ein Stadion, das den Namen João Marcatto, ihres ersten Mäzens, erhalten hatte. Mit Beginn der 1990er wechselte der Club Juventus Jaraguá do Sul zum Profi-Fußball. Zwischen 1991 und 1997 spielte der Club bereits in der ersten Liga des Bundesstaa­tes Santa Catarina. Aus den kirchliche­n Wurzeln ist heute ein ganz normaler Fußballver­ein geworden, der 2007 und 2008 erstmals bei der Copa do Brasil mitmachte, der gesamt-brasiliani­schen Meistersch­aft.

„Mein Land kann seit vier Jahren nicht schlafen.“

Allison Becker

über das 1:7 gegen Deutschlan­d

bei der Fußball-WM 2014

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FOTO: AFP Die Vorfahren des brasiliani­schen Torwarts Alisson Becker wanderten von Mettnich nach Brasilien aus.

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