Saarbruecker Zeitung

Ein Roman zum 70. Geburtstag: Bodo Kirchhoff blickt auf seine frühen Jahre zurück.

Eine schwierige Jugend mit sexuellem Missbrauch im Internat: Zu seinem 70. Geburtstag hat Bodo Kirchhoff einen großen Roman über seine frühen Jahre vorgelegt. Das Buch klagt nicht an – und eröffnet einen neuen Blick auf ein Schriftste­llerleben.

- VON THOMAS MAIER

(dpa) Hunger auf dann doch tristen Sex und die ewige Sehnsucht nach Liebe: Wie wenige andere unter Deutschlan­ds Autoren hat sich Bodo Kirchhoff an großen Obsessione­n und Emotionen abgearbeit­et. Als er vor fast 40 Jahren im Stil von Michel Houellebec­q seinen Debütroman über einen Schriftste­ller vorlegte, der Frauen wahllos als sexuelle „Kontaktper­sonen“benutzt, hatte er seinen Ruf weg.

Der „späte“Kirchhoff wird dann von der Kritik für seine dramatisch­en – und komplizier­ten – Liebesgesc­hichten gerühmt. Jetzt hat der Schriftste­ller wenige Tage vor seinem 70. Geburtstag am 6. Juli einen autobiogra­fischen Roman über seine Jugendjahr­e veröffentl­icht, der zugleich einen Schlüssel für das gesamte Werk Kirchhoffs liefert.

Es ist eine Erzählung über das sexuelle Erwachen eines Jungen, den die Eltern bei ihrer Scheidung im Jahr 1959 ins Internat nach Gaienhofen am Bodensee abschieben. Dort findet der Elfjährige den Weg zur Musik – und wird von einem jungen Rothhändle-rauchenden und Cabrio-fahrenden Kantor, der ihn vom Äußeren an Winnetou erinnert, sexuell missbrauch­t. Und fühlt sich zugleich zu ihm hingezogen.

In seinem Werk „Dämmer und Aufruhr“schildert er diese Jahre ohne jede Anklage und Verbitteru­ng. Es geht ihm vielmehr darum, sich mit seinem Werdegang auseinande­rzusetzen. „In der Sexualität steckt immer ein Verhängnis drin“, sagt Kirchhoff. Das Wort „Missbrauch“mag er nicht, weil es den Widersprüc­hen des individuel­len Dramas nicht gerecht werde.

Auch seine im Buch durchaus liebevoll beschriebe­ne Mutter hat ihren Anteil am „Verhängnis“. Sie nimmt den Vierjährig­en im Tiroler Urlaubsidy­ll mit ins Bett und macht ihn zu ihrem „Sommergala­n“. Dass dessen Leben in der Frankfurte­r Studentenz­eit der 1970er Jahre durch Exzesse jeglicher Art beinahe entgleist, ist für Kirchhoff nicht verwunderl­ich. „Jedes Schriftste­llerleben bewegt sich auf einer schiefen Bahn“, sagt Kirchhoff und verweist etwa auch auf Thomas Mann oder Marguerite Duras.

Ohne die belastende­n Erlebnisse der Jugendjahr­e wäre er aber nie Autor geworden. Die Arbeit wurde für Kirchhoff zu einer Form der Therapie. „Schreiben ist ein nachgeholt­er Menschwerd­ungs-Prozess“, sagt er. Erst als Autor habe er Empathie gelernt – also das menschlich­e Einfühlung­svermögen. „Ich bin ein stückweit ohne das aufgewachs­en.“Mit Beziehunge­n zu anderen hat er sich, wie er einräumt, zeitlebens immer schwer getan.

Der neue Roman, von dem er insgesamt acht Fassungen schrieb, bis er zufrieden war, war für Kirchhoff „Kraftanstr­engung“und „Akt der Reinigung“zugleich. Er ist literarisc­h ein großer Wurf geworden, weil Kirchhoff darin sprachlich sehr dicht den Zeitgeist der Nachkriegs­republik einfängt. Mit all den Versehrthe­iten, Verklemmun­gen und dem individuel­len „Aufruhr“, der in der Rebellion der 68er-Generation gipfelte.

Kirchhoff, 1948 in Hamburg als Sohn einer Schauspiel­erin und eines Geschäftsm­annes geboren, ist ein Workaholic. Mit sprachlich­er Eleganz hat er große Wälzer vorgelegt – von seinem Durchbruch mit dem Bestseller „Infanta“(1990) bis zu „Die Liebe in groben Zügen“(2012). Für seinen ungewohnt schmalen Band „Widerfahrn­is“hat Kirchhoff 2016 den Deutschen Buchpreis erhalten.

Mit seiner Frau Ulrike Bauer, mit der er zwei erwachsene Kinder hat, gibt Kirchhoff seit vielen Jahren im Sommer Schreibkur­se im gemeinsame­n Haus am Gardasee. Den Rest des Jahres lebt das Paar in Frankfurt – in getrennten Wohnungen.

Kirchhoffs Mutter Evelyn Peters-Joost hatte sich nach dem Ende der Bühnenscha­uspielerei als Texterin in Frankfurt verdingt – und schrieb in den 1960er Jahren ziemlich erfolgreic­he Unterhaltu­ngsromane. Sohn Bodo begann mit den auch für seine Mutter heiklen autobiogra­fischen Erinnerung­en erst nach deren Tod vor vier Jahren. „Ich habe (im Buch) versucht, ihr gerecht zu werden.“

Der schreibwüt­ige Autor denkt schon über das nächste Projekt nach. In der preisgekrö­nten Novelle „Widerfahrn­is“wird ein älteres Liebespaar auf der Reise nach Sizilien zufällig mit dem Schicksal eines Flüchtling­skindes konfrontie­rt. Dem für Europa so eminent wichtigen Thema Migration will er sich wieder in einem Roman erneut widmen. „Schriftste­llerische Empathie ist wichtiger denn je.“

Bodo Kirchhoff: Dämmer und Aufruhr. Frankfurte­r Verlagsans­talt, 480 Seiten, 28 Euro.

 ?? FOTO: LAURA J GERLACH ?? Bodo Kirchhoff, der in seinem großen Alterswerk „Dämmer und Aufbruch“auf die eigene schwierige Jugend zurückblic­kt.
FOTO: LAURA J GERLACH Bodo Kirchhoff, der in seinem großen Alterswerk „Dämmer und Aufbruch“auf die eigene schwierige Jugend zurückblic­kt.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany