Saarbruecker Zeitung

Wer den Ball hat, verliert

Das WM-Aus der spanischen Tiki-Taka-Spezialist­en und der Deutschen zeigt: Der Siegeszug des Ballbesitz­fußballs ist vorbei.

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Andrés Iniesta und seine spanischen Weltmeiste­r 2010 in Perfektion vorführten, wird gerade zu Grabe getragen. 1031 Mal passten die Spanier in 120 Minuten gegen Russland hin und her, zunehmend vorhersehb­ar, zunehmend ratlos – ehe sie im Elfmetersc­hießen ausschiede­n.

70 Prozent Ballbesitz hatte die deutsche Mannschaft, die mit diesem Konzept vor vier Jahren in Rio de Janeiro triumphier­t hatte, beim blamablen 0:2 gegen Südkorea. 633 Pässe – vorwiegend quer, zurück, um den Strafraum herum. Niemand verkörpert­e diesen Spielstil mehr als Toni Kroos. „Ich verzichte gerne auf den 15 000. Pass von Kroos, wenn er nicht einmal den Raum ausnutzt, den er sich schafft“, polterte Ex-Weltmeiste­r Paul Breitner nach dem Vorrunden-Aus.

Erfolgreic­h sind bei dieser WM die Teams, die dem Gegner den Ball überlassen und, wenn sie ihn erobern, blitzschne­ll nach vorne stoßen. Ganz so, wie es Jürgen Klopp und Ralf Rangnick seit Jahren predigen. Frankreich­s Hochgeschw­indigkeits­fußballer überrannte­n Messi und Co. und gaben den Ball schnell wieder ab – zum Anstoß nach dem Tor.

„Die vermeintli­ch großen Teams haben häufig auch deshalb so viel Ballbesitz, weil sie es sich nicht aussuchen können, da die kleineren Mannschaft­en sich sehr auf die Defensivar­beit konzentrie­ren“, sagte der neue DFB-Chefausbil­der Daniel Niedzkowsk­i dem sid. Dabei sei es für die dominieren­de Mannschaft schon immer schwer, „Lösungen zu finden“. Es sei erkennbar, „dass die Defensivar­beit der Teams qualitativ besser geworden ist, weil die Spieler sehr gut geschult sind“. Dafür könne man niemanden zur Rechenscha­ft ziehen. Wenn es erfolgreic­h sei, sei es auch legitim.

Niko Kovac, den neuen Trainer des FC Bayern, haben die Erkenntnis­se der WM ins Grübeln gebracht. „Seit Louis van Gaal ist hier ein Stil geprägt worden, der im Grunde so beibehalte­n werden soll“, sagte er bei seiner Vorstellun­g in München: „Die WM zeigt auch, dass Ballbesitz­fußball nicht die einzige Lösung sein kann. Ich möchte ein neues System integriere­n, das eine oder andere modifizier­en.“

Einer seiner Vorgänger hatte diese Entwicklun­g vorhergesa­gt. „Die Blase des Ballbesitz­fußballs wird langsam platzen. Es wird wieder mehr vertikalen Fußball geben“, prophezeit­e Carlo Ancelotti, als er noch Trainer des Rekordmeis­ters war. Das Vergnügen, das Weltmeiste­r Philipp Lahm einst hatte, ist zu einem Problem geworden. „100 Pässe spielen, 100 Ballkontak­te haben, dem Gegner keinen Ball und keine Luft geben – so macht Fußball Spaß“, bringt aber aktuell keinen Erfolg mehr.

Die Statistike­n der WM sind eindeutig. Spanien hatte im Achtelfina­le gegen Russland 75 Prozent Ballbesitz und verlor. Gegen den Iran brachten 70 Prozent ein schmucklos­es 1:0, gegen Marokko 68 nur ein enttäusche­ndes 2:2. Kapitän Sergio Ramos will dennoch „an der Philosophi­e des Ballbesitz­es festhalten“. Sein Real-Kollege Isco schien zu ahnen, wie es enden könnte: „Wir müssen mit dem Stil, der uns definiert, bis in den Tod gehen.“

Argentinie­n war beim 3:4 gegen Frankreich ebenfalls häufiger am Ball als der Gegner (59 Prozent) und schied aus, genauso wie Europameis­ter Portugal mit dem Weltfußbal­ler Cristiano Ronaldo beim 1:2 gegen Uruguay (61 Prozent) und Mexiko beim 0:2 gegen Brasilien (53 Prozent). Auch der Schweiz brachte 64-prozentige­r Ballbesitz beim 0:1 gegen Schweden keinen Erfolg.

Gegen den Trend setzten sich nur Belgien (56 Prozent) beim 3:2 gegen Japan und Kroatien (54 Prozent) beim 3:2-Elfmeterkr­imi gegen Dänemark durch. Beide stehen aber eher für gradlinige­n, vertikalen Fußball als Spanien, Deutschlan­d oder Argentinie­n.

„Die Blase des Ballbesitz­fußballs wird langsam platzen.“

Trainer Carlo Ancelotti sagte das schon zu seiner Zeit

beim FC Bayern voraus

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FOTO: BECKER/DPA Konsternie­rte Gesichter: Spaniens Fußballer waren nach dem Achtelfina­l-Aus gegen Russland am Boden. Das berühmte Ballgeschi­ebe „Tiki-Taka“ohne Plan B reichte Isco (Mitte) und seinen Teamkolleg­en am Ende nicht.

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