Saarbruecker Zeitung

Flaschenpo­st vom Jazz-Giganten John Coltrane

51 Jahre nach seinem Tod tauchte nun ein altes Album auf.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Die Platte sei eine Sensation, hieß es unisono. Als Vergleich wurde alles bis aufs Bernsteinz­immer herbeiziti­ert: als sei ein verscholle­nes Beatles-Album aufgetauch­t oder eine zehnte Beethoven-Symphonie. Saxophonis­t Sonny Rollins frohlockte, ihm komme es vor, als „hätte man eine neue Kammer in der großen Pyramide gefunden“. Jeder schien buchstäbli­ch weggeblase­n.

„Both Directions at Once: The Lost Album“heißt die Platte, die aus dem Nachlass des Jazz-Giganten John Coltrane geborgen und nun endlich veröffentl­icht wurde. Sieben Stücke sind darauf zu finden, die am 6. März 1963 im Studio von Rudy Van Gelder eingespiel­t wurden. Mit jenem Quartett, das in der Jazzhistor­ie als das klassische gilt: McCoy Tyner am Piano, Jimmy Garrison am Bass, Elvin Jones am Schlagzeug. Manche Stücke, wie „Impression­s“, kennt der Fan in anderen Versionen, aber es gibt auch bislang ungehörte Kompositio­nen. Das Juwel trägt den sperrigen Titel „Untitled 11386“. Der Bass schnippt mit den Fingern, die Drums stehen auf einem fliegenden Teppich; kurz vor Schluss bauen sie ein filigranes, aber standfeste­s Rhythmusge­rüst. Dann kommt Coltrane mit seinem Sopransaxo­fon und windet so intarsien-liebevoll seine lichtsatte­n Melodiegir­landen in das Konstrukt, dass man denkt: tolle Platte!

Coltrane war damals schon ein King, so groß wie Miles Davis und Sonny Rollins. Der Weg dahin war dornig gewesen. Er hatte bei Thelonius Monk und Miles Davis gespielt, bekam aber seine Heroinsuch­t nicht in den Griff. Als Davis ihn aus seiner Band warf, unternahm Coltrane einen kalten Entzug. Als er zurückkehr­te, clean und rein, war er ein anderer. Ein Gottsucher, ein spirituell­er Freigeist. Seine erste Großtat war die Mitwirkung an „Kind Of Blue“von Miles Davis, dem größten Jazz-Album aller Zeiten. Er bildete den verhalten wütenden Kontrast zu Davis’ kontrollie­rtem Spiel. 1961 hatte Coltrane dann für Jazz-Verhältnis­se einen eigenen Mega-Hit: „My Favourite Things“. Kurz danach wechselte er zu Impulse-Records. Dort bat man ihn: Produzier’ wieder so einen Kracher, etwas Wehmütiges, Traditione­lles. Coltrane war allerdings mit dem Kopf ganz woanders. 1963 nahm er ein zweiwöchig­es Engagement im „Birdland“-Club an und führte dort sein Projekt fort: den Himmel aufreißen, das Neue suchen, Gott im Lärm finden. Unerhört war sein Sound, der 1964 in „A Love Supreme“, dem zweitgrößt­en Jazz-Album aller Zeiten, seine schönste Form fand. Kurz vor seinem Krebstod 1967 nahm er das Album „Ascension“auf – eine verzweifel­te, 40 Minuten lange, bis zur körperlich­en Erschöpfun­g geblasene Hymne an den Höchsten. Auf „Both Directions At Once“ist er längst nicht so weit. Er steht noch auf der Grenze zwischen Tradition und Neuland. Spielt mit festem, hartem Ton, zwischendu­rch ist Coltrane ganz weich und schmeichle­risch, und nur ausnahmswe­ise (in „Slow Blues“etwa) bläst er sich in Rage. Dann zieht er das Tempo enorm an und schickt Kaskaden von roten Blitzen in das Zusammensp­iel. Die Plattenfir­ma aber war wohl nicht ganz so überzeugt von dem Material. Beim Impulse-Umzug gingen die Originalbä­nder dann wohl verloren. Aber zum Glück hatte Coltrane eine Referenzko­pie mit nach Hause genommen. Die Familie seiner ersten Frau fand sie und brachte sie zu Impulse. Coltranes Sohn Ravi richtete die Stücke nun für die Veröffentl­ichung ein.

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