Das Labor Lesbos
Auf der griechischen Insel testet die EU ihre Strategie für die Bekämpfung der illegalen Zuwanderung über das Mittelmeer.
So hat er sich das nicht vorgestellt. Auf einem schäbigen Plastikstuhl sitzt Jacques wenige Meter vom Lagereingang entfernt, wo eine Griechin aus einem alten Wohnwagen heraus Getränke verkauft, lädt sein Handy und starrt vor sich hin: „Will Europa wirklich, dass wir so behandelt werden?“Nachts könne er nicht schlafen, weil es im Camp unerträglich heiß sei. Das Essen, wofür er drei Stunden anstehen müsse, sei schlecht. „Nein, das ist nicht Europa hier.“Seit einem Jahr ist der 41-jährige Kongolese im berüchtigten Lager Moria auf der griechischen Ägäis-Insel Lesbos. 8500 Zuwanderer aus 56 Nationen leben hier in Zelten und Containern, eingezäunt mit Stacheldraht.
Lesbos, an der engsten Stelle nur neun Kilometer vom türkischen Festland entfernt, hat sich zu einem Labor der EU für den Umgang mit der illegalen Zuwanderung über das Mittelmeer entwickelt. Das würde zwar in Brüssel nie jemand offiziell so sagen, doch tatsächlich testet Europa hier, welche Strategie helfen kann, wenn wieder Hunderttausende binnen weniger Wochen kommen sollten so wie im Herbst 2015 und 2016.
Auch aus EU-Sicht ist es im Fall von Jacques nicht ideal gelaufen. Als der sich in Kinshasa aufmachte, über Casablanca nach Istanbul flog, dann mit dem Bus an die türkische Küste fuhr und sich nach einem Platz auf einem der Schlauchboote der Menschenhändler umsah, war der EU-Türkei-Deal schon mehr als ein Jahr in Kraft. Eigentlich sollten da schon lange keine Schmugglerboote mehr ablegen. Die türkische Regierung hatte sich gegenüber der EU im März 2016 verpflichtet, die Seegrenze zu sichern. Komplett gestoppt wurde der Menschenhandel zwar nicht, aber massiv eingedämmt. Der Zustrom ist gegenüber 2015 und 2016 um 90 Prozent zurückgegangen. In diesen Tagen landen auf Lesbos rund 45 Migranten am Tag an, bis Mitte Juli waren es in diesem Monat 599.
Nach dem Muster des leidlich funktionierenden Türkei-Deals will die EU weitere Abkommen mit Anrainern schließen. Länder wie Marokko, Tunesien und Libyen sollen Geld dafür bekommen, dass sie die Menschen abhalten, in die Boote zu steigen. Auch dies stößt in vielen EU-Hauptstädten auf Zustimmung: Bei der Rettung Schiffbrüchiger in der Ägäis spielen private Hilfsorganisationen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) keine Rolle mehr. Dafür haben frühzeitig die griechischen Behörden gesorgt, nachdem es auch im östlichen Mittelmeer zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen den nationalen Behörden und den NGOs gekommen war.
Die zweite Säule der EU-Strategie gegen illegale Zuwanderung heißt lückenloser Grenzschutz. Der EU-Gipfel hat beschlossen, Frontex, die EUGrenzund Küstenschutz-Agentur, massiv aufzurüsten. Bis 2020 soll das Personal von derzeit 1300 auf 10 000 aufgestockt werden. 2014 bis 2020 stehen Frontex 4,3 Milliarden Euro zur Verfügung, von 2021 bis 2027 soll es mit 18,3 Milliarden vier Mal so viel sein. Frontex sorgt bereits heute für einen lückenlosen Schutz der Grenze an der Ostküste von Lesbos. Rund um die Uhr patrouillieren 15 Schiffe, ein Flugzeug und ein Helikopter, über 600 Beamte sind im Einsatz. Gerät und das Personal stellen jeweils die Mitgliedstaaten zur Verfügung.
Im Hafen von Molivos im Norden der Insel läuft an diesem Mittag das litauische Schnellboot mit den Grenzschützern Edmundas und Arturas aus. Der 51-jährige Edmundas steuert das sieben Meter lange Schlauchboot exakt auf der türkisch-griechischen Seegrenze. „Es ist sehr schwer, die Boote zu sehen“, meint Edmundas. Mit dem Fernrohr ortet er eine türkische Segelyacht. In hohem Tempo steuert er das Frontex-Boot zur Yacht, über Funk klärt er ab, wie viele Personen an Bord sind und wohin die Reise geht. Die Frontex-Leute werden später die Angaben an die Hafenpolizei weitergeben, die den Fall weiter verfolgen. Für die Litauer ist es an diesem Tag eine Routine-Schicht. Sie zeigen Präsenz, wenige Seemeilen südlich entdecken ihre Frontex-Kollegen an diesem Tag ein Schlauchboot mit 45 Migranten, darunter 40 Somalier. Sie nehmen sie auf hoher See an Bord und bringen sie sicher an die Küste.
Irgendwann werden die 45 Geretteten in das Lager nach Moria gebracht. Ihre Fingerabdrücke werden genommen, Frontex und Europol helfen den griechischen Behörden sicherzustellen, dass keine Straftäter oder IS-Terroristen darunter sind. Moria ist nicht irgendein Erstaufnahmelager. Moria ist besonders. Hier wird das so genannte Hotspot-Konzept verfolgt, das laut Gipfel-Beschluss demnächst auch anderswo in Europa zum Einsatz kommen soll. Die EU plant schärfere Beschränkungen für Asylbewerber. Auf Lesbos ist dies bereits Realität: Die Migranten dürfen zwar das Lager verlassen, sie müssen aber für die Dauer des Asylverfahrens auf Lesbos bleiben. Niemand kann die Insel verlassen, ohne an der Fähre oder am Flughafen seine Papiere zu zeigen. Damit ist auch klar, dass die Migranten nicht in das EU-Mitgliedsland weiterziehen können, wo sie Verwandte und Freunde haben oder was ihnen aufgrund der wirtschaftlichen Perspektiven attraktiv erscheint.
Unter den Migranten ist der Verdruss groß. Die besonderen Umstände von Moria kommen erschwerend hinzu. Duschen und sanitäre Anlagen sind nur für 750 Personen ausgelegt. Mit derzeit 8500 Personen ist das Lager völlig überbelegt. Im Lager kommt es regelmäßig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Eine Mitarbeiterin der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“nennt die Lage im Lager „menschenunwürdig“: „Mir hat eine Familie aus Syrien gesagt: Sie hätten es vorgezogen, im Bürgerkrieg zu bleiben, wenn sie gewusst hätten, wie schlimm das Leben in Moria ist.“
Perspektivlosigkeit schaut aus vielen Gesichtern der Menschen in Moria. Die meisten wissen, dass ihre Chancen auf Schutz gering sind. 2017 ist EU-weit die Anerkennungsquote in der ersten Instanz auf 46 Prozent zurückgegangen. Wer aus dem Irak, Syrien, Afghanistan oder aus Eritrea kommt, hat gewisse Chancen. Kongolesen wie Jacques haben dagegen sehr schlechte Aussichten. Nahezu alle Menschen, die auf Lesbos ankommen, stellen einen Asylantrag. Im Juni waren es 20 Prozent Afghanen, jeweils 16 Prozent Iraker und Syrer, zwölf Prozent kamen aus dem Kongo. Damit ist ein großes Problem der EU-Migrationspolitik auf Lesbos mit Händen zu greifen: Alle Afrikaner und Asiaten, die nach Europa wollen, müssen einen Asylantrag stellen. Egal ob sie verfolgt sind oder nicht. Die Prozedur frustriert beide Seiten: Die Menschen, die jahrelang warten müssen und dann vielfach abgelehnt werden. Und die Asylbehörden in den EU-Mitgliedsländern: Sie sind überlastet mit Bürokratie. Und es fehlt am Ende am Geld, um denjenigen zu helfen, die in Not sind.