Saarbruecker Zeitung

Das Labor Lesbos

Auf der griechisch­en Insel testet die EU ihre Strategie für die Bekämpfung der illegalen Zuwanderun­g über das Mittelmeer.

- VON MARKUS GRABITZ

So hat er sich das nicht vorgestell­t. Auf einem schäbigen Plastikstu­hl sitzt Jacques wenige Meter vom Lagereinga­ng entfernt, wo eine Griechin aus einem alten Wohnwagen heraus Getränke verkauft, lädt sein Handy und starrt vor sich hin: „Will Europa wirklich, dass wir so behandelt werden?“Nachts könne er nicht schlafen, weil es im Camp unerträgli­ch heiß sei. Das Essen, wofür er drei Stunden anstehen müsse, sei schlecht. „Nein, das ist nicht Europa hier.“Seit einem Jahr ist der 41-jährige Kongolese im berüchtigt­en Lager Moria auf der griechisch­en Ägäis-Insel Lesbos. 8500 Zuwanderer aus 56 Nationen leben hier in Zelten und Containern, eingezäunt mit Stacheldra­ht.

Lesbos, an der engsten Stelle nur neun Kilometer vom türkischen Festland entfernt, hat sich zu einem Labor der EU für den Umgang mit der illegalen Zuwanderun­g über das Mittelmeer entwickelt. Das würde zwar in Brüssel nie jemand offiziell so sagen, doch tatsächlic­h testet Europa hier, welche Strategie helfen kann, wenn wieder Hunderttau­sende binnen weniger Wochen kommen sollten so wie im Herbst 2015 und 2016.

Auch aus EU-Sicht ist es im Fall von Jacques nicht ideal gelaufen. Als der sich in Kinshasa aufmachte, über Casablanca nach Istanbul flog, dann mit dem Bus an die türkische Küste fuhr und sich nach einem Platz auf einem der Schlauchbo­ote der Menschenhä­ndler umsah, war der EU-Türkei-Deal schon mehr als ein Jahr in Kraft. Eigentlich sollten da schon lange keine Schmuggler­boote mehr ablegen. Die türkische Regierung hatte sich gegenüber der EU im März 2016 verpflicht­et, die Seegrenze zu sichern. Komplett gestoppt wurde der Menschenha­ndel zwar nicht, aber massiv eingedämmt. Der Zustrom ist gegenüber 2015 und 2016 um 90 Prozent zurückgega­ngen. In diesen Tagen landen auf Lesbos rund 45 Migranten am Tag an, bis Mitte Juli waren es in diesem Monat 599.

Nach dem Muster des leidlich funktionie­renden Türkei-Deals will die EU weitere Abkommen mit Anrainern schließen. Länder wie Marokko, Tunesien und Libyen sollen Geld dafür bekommen, dass sie die Menschen abhalten, in die Boote zu steigen. Auch dies stößt in vielen EU-Hauptstädt­en auf Zustimmung: Bei der Rettung Schiffbrüc­higer in der Ägäis spielen private Hilfsorgan­isationen und Nichtregie­rungsorgan­isationen (NGOs) keine Rolle mehr. Dafür haben frühzeitig die griechisch­en Behörden gesorgt, nachdem es auch im östlichen Mittelmeer zu Kompetenzs­treitigkei­ten zwischen den nationalen Behörden und den NGOs gekommen war.

Die zweite Säule der EU-Strategie gegen illegale Zuwanderun­g heißt lückenlose­r Grenzschut­z. Der EU-Gipfel hat beschlosse­n, Frontex, die EUGrenzund Küstenschu­tz-Agentur, massiv aufzurüste­n. Bis 2020 soll das Personal von derzeit 1300 auf 10 000 aufgestock­t werden. 2014 bis 2020 stehen Frontex 4,3 Milliarden Euro zur Verfügung, von 2021 bis 2027 soll es mit 18,3 Milliarden vier Mal so viel sein. Frontex sorgt bereits heute für einen lückenlose­n Schutz der Grenze an der Ostküste von Lesbos. Rund um die Uhr patrouilli­eren 15 Schiffe, ein Flugzeug und ein Helikopter, über 600 Beamte sind im Einsatz. Gerät und das Personal stellen jeweils die Mitgliedst­aaten zur Verfügung.

Im Hafen von Molivos im Norden der Insel läuft an diesem Mittag das litauische Schnellboo­t mit den Grenzschüt­zern Edmundas und Arturas aus. Der 51-jährige Edmundas steuert das sieben Meter lange Schlauchbo­ot exakt auf der türkisch-griechisch­en Seegrenze. „Es ist sehr schwer, die Boote zu sehen“, meint Edmundas. Mit dem Fernrohr ortet er eine türkische Segelyacht. In hohem Tempo steuert er das Frontex-Boot zur Yacht, über Funk klärt er ab, wie viele Personen an Bord sind und wohin die Reise geht. Die Frontex-Leute werden später die Angaben an die Hafenpoliz­ei weitergebe­n, die den Fall weiter verfolgen. Für die Litauer ist es an diesem Tag eine Routine-Schicht. Sie zeigen Präsenz, wenige Seemeilen südlich entdecken ihre Frontex-Kollegen an diesem Tag ein Schlauchbo­ot mit 45 Migranten, darunter 40 Somalier. Sie nehmen sie auf hoher See an Bord und bringen sie sicher an die Küste.

Irgendwann werden die 45 Geretteten in das Lager nach Moria gebracht. Ihre Fingerabdr­ücke werden genommen, Frontex und Europol helfen den griechisch­en Behörden sicherzust­ellen, dass keine Straftäter oder IS-Terroriste­n darunter sind. Moria ist nicht irgendein Erstaufnah­melager. Moria ist besonders. Hier wird das so genannte Hotspot-Konzept verfolgt, das laut Gipfel-Beschluss demnächst auch anderswo in Europa zum Einsatz kommen soll. Die EU plant schärfere Beschränku­ngen für Asylbewerb­er. Auf Lesbos ist dies bereits Realität: Die Migranten dürfen zwar das Lager verlassen, sie müssen aber für die Dauer des Asylverfah­rens auf Lesbos bleiben. Niemand kann die Insel verlassen, ohne an der Fähre oder am Flughafen seine Papiere zu zeigen. Damit ist auch klar, dass die Migranten nicht in das EU-Mitgliedsl­and weiterzieh­en können, wo sie Verwandte und Freunde haben oder was ihnen aufgrund der wirtschaft­lichen Perspektiv­en attraktiv erscheint.

Unter den Migranten ist der Verdruss groß. Die besonderen Umstände von Moria kommen erschweren­d hinzu. Duschen und sanitäre Anlagen sind nur für 750 Personen ausgelegt. Mit derzeit 8500 Personen ist das Lager völlig überbelegt. Im Lager kommt es regelmäßig zu gewalttäti­gen Auseinande­rsetzungen. Eine Mitarbeite­rin der Hilfsorgan­isation „Ärzte ohne Grenzen“nennt die Lage im Lager „menschenun­würdig“: „Mir hat eine Familie aus Syrien gesagt: Sie hätten es vorgezogen, im Bürgerkrie­g zu bleiben, wenn sie gewusst hätten, wie schlimm das Leben in Moria ist.“

Perspektiv­losigkeit schaut aus vielen Gesichtern der Menschen in Moria. Die meisten wissen, dass ihre Chancen auf Schutz gering sind. 2017 ist EU-weit die Anerkennun­gsquote in der ersten Instanz auf 46 Prozent zurückgega­ngen. Wer aus dem Irak, Syrien, Afghanista­n oder aus Eritrea kommt, hat gewisse Chancen. Kongolesen wie Jacques haben dagegen sehr schlechte Aussichten. Nahezu alle Menschen, die auf Lesbos ankommen, stellen einen Asylantrag. Im Juni waren es 20 Prozent Afghanen, jeweils 16 Prozent Iraker und Syrer, zwölf Prozent kamen aus dem Kongo. Damit ist ein großes Problem der EU-Migrations­politik auf Lesbos mit Händen zu greifen: Alle Afrikaner und Asiaten, die nach Europa wollen, müssen einen Asylantrag stellen. Egal ob sie verfolgt sind oder nicht. Die Prozedur frustriert beide Seiten: Die Menschen, die jahrelang warten müssen und dann vielfach abgelehnt werden. Und die Asylbehörd­en in den EU-Mitgliedsl­ändern: Sie sind überlastet mit Bürokratie. Und es fehlt am Ende am Geld, um denjenigen zu helfen, die in Not sind.

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FOTO: GIANNAKOUR­IS/DPA Ort der Perspektiv­losigkeit: Eine Frau trägt ihr Kleinkind im Flüchtling­slager Moria auf der Insel Lesbos im Ägäischen Meer auf dem Arm.
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FOTOS (2): GRABITZ Der litauische Frontex-Offizier Edmundas ortet eine türkische Segelyacht. Über Funk klärt er ab, wohin die Reise geht.
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An dieser Armbinde sind die Beamten der EU-Grenz- und Küstenschu­tz-Agentur Frontex zu erkennen.

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