Saarbruecker Zeitung

Die Zeit vergeht im Sauseschri­tt

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Großvater wusste, wie man Sekunden zählt. 21, 22 – langsam, mit Bedacht. Genau so lange dauerten Sekunden, wie sich die Zahlen in seinem Mund formten. Das war zu verstehen, darauf war Verlass. Schwierige­r zu begreifen für einen Jungen war es da schon, wenn er mit einem Seufzer sagte, die Zeit renne immer schneller. Wieso das? Wenn doch die Sekunden einem ganz klaren Takt folgten, wie er ihn so wunderbar vorgeben konnte. Nein, die Zeit schien in jenen Schülerjah­ren ein Kontinuum von wahrlich kosmischer Dimension. Weit, unüberscha­ubar, ewig. Es war so viel Zeit! An einem Vormittag im Klassenzim­mer (ein Schulfreun­d: „Alle Viertelstu­nde schau’ ich auf die Uhr, und es sind immer nur fünf Minuten rum), in den Sommerferi­en im Kirschbaum, versunken ins Greifen und Schmatzen, oder später mit den Jungs um die Häuser ziehend. Die Sekunden, sie verrannen wunderbar langsam. Na ja – manchmal halt auch quälend langsam. 21, 22.

Das ist eine kleine Ewigkeit her, Großvater schon lange tot. Und der Junge von damals ertappt sich heute bei dem Gedanken, die Tage seien auf einmal zu kurz. Merkwürdig­erweise zunehmend, besonders seit die eigenen Kinder aus dem Haus sind. Kann das sein? Eigentlich nicht. Natürlich hat sich die Psychologi­e diesem Thema angenommen und mögliche Erklärunge­n erarbeitet. Aber immer fußend auf dem Gedanken, eine Sekunde sei eben eine Sekunde lang. Doch das stimmt nicht. Denn dieser Tage geschah folgendes: Beim Aufwachen bleibt der Blick am Wecker hängen. Der Sekundenan­zeige. 21, 22. Mehrfach mit den Lippen nachgeform­t. Gar vier Sekunden gezählt nach Großvaters Methode – die elektronis­che Anzeige ist schon sechs weiter. Paulchen Panthers „Wer hat an der Uhr gedreht“bekommt eine ganz neue Bedeutung.

Geht nicht? Zu schnell gezählt? Im Leben nicht! Es ist viel einfacher: Der Junge von damals ist heute Großvater.

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