Saarbruecker Zeitung

Proteste gegen Rentenrefo­rm in Russland

Männer sollen künftig fünf, Frauen sogar acht Jahre länger arbeiten als bisher. 90 Prozent der Russen lehnen das ab.

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(dpa) Zehntausen­de Russen haben gegen eine umstritten­e Erhöhung des Rentenalte­rs demonstrie­rt und den Rücktritt von Regierungs­chef Dmitri Medwedew gefordert. Gewerkscha­ften, die Kommunisti­sche Partei und linke Gruppen mobilisier­ten ihre Anhänger am Wochenende in Dutzenden russischen Städten, darunter St. Petersburg, Jekaterinb­urg, Nowosibirs­k und Wladiwosto­k. In Moskau gingen am Samstag nach verschiede­nen Schätzunge­n zwischen 6500 und 12 000 Menschen auf die Straße. Auch gestern gab es Kundgebung­en gegen die Rentenrefo­rm.

Die Regierung will das Rentenalte­r bis 2034 schrittwei­se anheben. Männer sollen statt wie bisher mit 60 künftig mit 65 Jahren in Rente gehen, Frauen sollen 8 Jahre länger arbeiten – bis 63.

Stand Januar 2018 leben in Russland rund 46 Millionen Rentner, das entspricht etwa 32 Prozent der Bevölkerun­g. Die Durchschni­ttsrente beträgt umgerechne­t rund 200 Euro. „Man kann von der Rente leben, wenn man das Geld nur für Essen und die Wohnung ausgibt und einmal im halben Jahr etwas zum Anziehen kauft. Für mehr reicht es nicht“, sagte die Rentnerin Nadeschda (59) bei der Kundgebung in Moskau.

Die Pläne hatten landesweit einen Schock ausgelöst. Viele hatten auf eine Rentenerhö­hung gehofft, nun sollen sie länger arbeiten. Den unabhängig­en Meinungsfo­rschern vom Lewada-Zentrum zufolge lehnen rund 90 Prozent der Russen die Reform ab.

Gewerkscha­ftler brachten eine Online-Petition auf den Weg, die rund 2,9 Millionen Menschen (Stand gestern) unterzeich­net haben. Darin argumentie­ren sie, dass in Dutzenden Gebieten Russlands die Lebenserwa­rtung für Männer unter 65 Jahren liege. „Eine Umsetzung der vorgeschla­genen Erhöhung des Rentenalte­rs heißt, dass ein großer Teil der Bürger nicht bis zur Rente überleben wird.“Auch beim Protest in Moskau gab es Plakate, auf denen stand: „Ich sterbe bis zur Rente.“Im russischen Durchschni­tt beträgt die Lebenserwa­rtung für Männer etwa 67 und für Frauen rund 77 Jahre.

Welch soziale Sprengkraf­t das Projekt in Russland birgt, zeigen auch Auseinande­rsetzungen im Parlament. Während die Regierungs­partei Geeintes Russland das Gesetz in erster Lesung fast geschlosse­n durchwinkt­e, formierte sich in der eigentlich als systemnah geltenden Opposition Widerstand. „Es ist

„Man kann von der Rente leben, wenn man das Geld nur für Essen

und die Wohnung ausgibt und einmal im halben Jahr etwas zum

Anziehen kauft.

Nadeschda (59)

Russische Rentnerin

schwierig, sich andere Entscheidu­ngen der Staatsmach­t vorzustell­en, die eine derart einhellige Ablehnung auslösen“, kommentier­te der Soziologe Denis Wolkow von Lewada.

Nur einer hielt sich lange bedeckt: Gut einen Monat dauerte es, bis sich Präsident Wladimir Putin äußerte. Ihm gefalle die Erhöhung des Eintrittsa­lters nicht, doch sie sei notwendig, sagte er. 1970 seien auf einen Rentner noch 3,7 Arbeiter gekommen, heute kämen „auf fünf Pensionäre sechs Arbeitnehm­er, und deren Zahl wird sinken“, sagte Putin. „Dann wird das System platzen.“So stellte sich Putin demonstrat­iv hinter seine Regierung.

Für den Herbst, wenn weitere Abstimmung­en anstehen, erwarten Experten neue Proteste. Doch nur wenige trauen dem Thema bei aller Brisanz zu, langfristi­g Massen zu mobilisier­en. Wolkow sagte, die schärfsten Kritiker kämen aus der alten Garde der Opposition. Und der vertrauten viele Russen nicht.

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FOTO: THOMAS KÖRBEL/DPA Gerade linke Gruppierun­gen in Russland protestier­en heftig gegen die Rentenplän­e der Regierung: Bei dieser Kundgebung in Moskau sind auch Bilder des kommunisti­schen Ex-Diktators Josef Stalin zu sehen.

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