Gereift, entspannt und ausgewogen
Seit ihrem WM-Titel am Schwebebalken steht die Saarländerin Pauline Schäfer im Fokus der turninteressierten Öffentlichkeit. Die 21-Jährige hat in den vergangenen zwölf Monaten viel erlebt – und wirkt erwachsen geworden.
CHEMNITZ Das Turnen auf dem Schwebebalken ist ein steter Balanceakt. Um ihn zu meistern, gilt es, das richtige Gleichgewicht zwischen Wagnis und Sicherheit zu finden. Pauline Schäfer hat schon früh ein gutes Gefühl dafür entwickelt. Noch bevor vor ein paar Jahren die kanadische Spezialistin Carol Ann Orchard engagiert wurde, um den deutschen Gerätkünstlerinnen den zu großen Respekt vor dem nur zehn Zentimeter breiten und fünf Meter langen Kantholz zu nehmen, hat die gebürtige Saarländerin es lieben gelernt. Geschmeidig wie eine Katze bewegt sie sich auf dem schmalen Grat und weiß das Spiel mit den Kräften für sich zu nutzen.
Ihre besonderen Fähigkeiten, gepaart mit der Zielstrebigkeit und dem Ehrgeiz, die ein Bewegungstalent erst zur Ausnahmeathletin machen, haben das Leben der Bierbacherin immer wieder gravierend verändert. Der Umzug der heute 21-Jährigen vor sechs Jahren nach Chemnitz, wo sie unter Trainerin Gabi Frehse zur Topsportlerin reifte, stellte einen entscheidenden Einschnitt dar. Aber was vor neun Monaten in Montréal passierte, hat noch einmal alles gründlich auf den Kopf gestellt. Als erste deutsche Weltmeisterin am ehemaligen Zittergerät nach 36 Jahren war Schäfer plötzlich einer breiten Öffentlichkeit bekannt, wurde ins „Aktuelle Sportstudio“und andere Fernsehshows geladen und belegte bei der bundesweiten Wahl zur „Sportlerin des Jahres“den zweiten Platz.
Plötzlich sah sich die eher introvertierte junge Frau einer ganz neuen Herausforderung gegenüber. Die gestiegene Nachfrage musste mit dem sowieso schon eng getakteten Alltag einer täglich zweimal trainierenden und dabei Kopf und Körper stark strapazierenden Bewegungskünstlerin in Einklang gebracht werden. Doch selbst hierbei scheint Schäfer den besten Weg für sich gefunden zu haben. Monatelang klinkte sie sich aus dem Wettkampfgeschehen aus, um sich den neuen Verpflichtungen zu widmen. Gleichzeitig schmiedete sie in der Halle an weiteren Schwierigkeiten, die ihre Vorträge aufwerten. Nicht nur am Balken, wo sie den Ausgangswert ihrer Übung noch einmal um wenige Zehntelpunkte steigerte, sondern auch an ihrem bisher schwächsten Gerät, dem Stufenbarren, wo ihr andere aus dem eigenen Nationalteam voraus sind. „Die Pause hat mir ziemlich gut getan“, resümiert Schäfer. „So hatte ich weniger Stress und konnte alles langsam angehen.“Auch die Abendschule, in der sie parallel zu ihrer sportlichen Karriere das Abitur anstrebt.
Pünktlich zu den Qualifikationswettkämpfen für die am heutigen Donnerstag beginnenden und in ein neues Multisport-Event eingebetteten Europameisterschaften in Glasgow meldete sie sich zurück und gewann gleich den ersten Vergleich mit der internen Konkurrenz. Bundestrainerin Ulla Koch verbuchte das mit Erleichterung. Mit der WM-Dritten Tabea Alt, der Olympia-Bronzemedaillengewinnerin Sophie Scheder und der deutschen Mehrkampfmeisterin Elisabeth Seitz fehlen der Bergisch-Gladbacherin gesundheitsbedingt gleich drei ihrer Spitzenkräfte im Team. Die merklich gereifte Schäfer kehrt damit, gemeinsam mit der routinierten Stuttgarterin Kim Bui, als Leitfigur für die Jüngeren, die Kölnerin Sarah Voss und die Karlsruherinnen Leah Grießer und Emma Höfele, dorthin zurück, wo sie bei den Weltmeisterschaften 2015 als Dritte am Balken ihre erste internationale Medaille holte.
Der Erfolg von damals gibt Schäfer vor der heutigen Qualifikation für das Teamfinale am Samstag und die Einzelgerät-Entscheidungen am Sonntag in der SSE Hydro Arena „ein gutes Gefühl“. Doch obwohl sie dabei mit der Möglichkeit liebäugelt, der angefangenen Sammlung von Edelmetall erstmals auch ein Stück von einer Europameisterschaft hinzuzufügen und sich außer am Balken auch am Boden Finalchancen ausrechnet, hat sie schon das nächste Großereignis im Blick.
Im Oktober stehen in der katarischen Hauptstadt Doha die Weltmeisterschaften und damit der erste Schritt in der Olympiaqualifikation für die Spiele 2020 in Tokio an. „Das ist das Ziel“, betont die Titelverteidigerin, die dann schon wieder entthront werden könnte. Druck machen lassen möchte sich die auch im in Glasgow nicht ausgetragenen Mehrkampf ambitionierte Schäfer aber weder dann noch jetzt. Es sei selbstverständlich, dass sie immer so gut wie möglich sein wolle, betont sie. Aber sie müsse jetzt nicht ständig beweisen, dass sie die Beste sei.
Dennoch wird sich der Fokus heute Abend auf die Weltmeisterin richten, wenn sie Anlauf nimmt zum Sprung auf das Gerät. Zu gymnastischen Verrenkungen wie der, bei denen sie beim Spagat in der Luft mit einem Fuß den Hinterkopf berührt, zu Pirouetten, bei denen sich die ganze Halle um einen dreht, und zum Schäfer-Salto, einem freien Seitwärts-Überschlag mit halber Schraube, mit dem sie sich einen Eintrag unter ihrem Namen im Erfinderbuch des Kunstturnens gesichert hat.
Beim WM-Finale vor drei Jahren hatte Schäfer auf diese Kreation, die sie sich bei einem Trainingslager in Nordamerika abgeschaut und als Erste auf internationaler Ebene gezeigt hatte, noch verzichtet. Zu groß schien damals das Risiko, sich danach auf dem Boden neben dem Balken wiederzufinden. Die Vorsicht zahlte sich aus, weil andere sich zu übermütig mit der Schwerkraft maßen und unterlagen. Für Schäfer macht genau diese stets drohende Gefahr den speziellen Reiz der eineinhalbminütigen Performance aus. Auf ihr besonderes Gefühl für Ausgewogenheit konnte sie sich zuletzt aber nicht nur dabei verlassen.
„Die Pause hat mir ziemlich gut getan. So hatte ich weniger
Stress.“
Pauline Schäfer Schwebebalken-Weltmeisterin