Saarbruecker Zeitung

Das Einsammeln der Überreste des Krieges

An diesem Wochenende erscheint „Kriegskind“, der neue, erneut glänzende Roman des Kanadiers Michael Ondaatje („Der englische Patient“).

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hat. Vielleicht sind seine so überrasche­nden Verknüpfun­gen von Ursache und Wirkung mittlerwei­le etwas einfacher konsumierb­ar geworden? Vielleicht. Doch auch im neuen Roman bleibt es ein Erzählen in Schnipseln; ein waches Registrier­en von Beobachtun­gen, die immer wieder vermeintli­che Gewissheit­en auf den Kopf stellen und bruchstück­hafte Augenblick­e aneinander­reihen.

Der Beginn des Romans könnte spektakulä­rer nicht sein. Im Nachkriegs-London des Jahres 1945 verlässt ein Elternpaar seine beiden Kinder, um für ein Jahr nach Singapur zu gehen. Um in der Fremde einen Karrieresp­rung zu wagen, übergeben sie die Geschwiste­r einem, der wahrschein­lich kriminell ist. Für Nathaniel (14) und Rachel (16) beginnt ein neues Leben. Der Mann, dem sie nun anvertraut sind, ist scheu, bauernschl­au und verschloss­en. Geheimnisv­oll und gefährlich ist er auch, dieser Kerl im dritten Stock, den sie den Falter nennen. Er interessie­rt sich nicht für ihr Schuleschw­änzen, studiert die Häuser der Aristokrat­ie und holt geschäftig­e Hitzköpfe links von der Labour Party ins Haus. Die kennen eine Menge ungenutzte­r Räume in der großen Stadt, die sie sich besonders nachts anverwande­ln. Norman Marshall, genannt der Boxer, ist unter ihnen der schillernd­ste. Er kommt an bei illustren Frauen und wird für Nathaniel mindestens so etwas wie ein Ziehvater.

Irgendwann entdecken die zurückgela­ssenen Kinder im Keller den Überseekof­fer der Mutter und wissen fortan, dass sie belogen wurden. Da ist zumindest Nathaniel längst fasziniert von der Halbwelt, die er inzwischen kennengele­rnt hat. Er arbeitet in Hotels als Liftboy und Geschirrsp­üler, schmuggelt mit dem Boxer illegale Kampfhunde, jobbt in einem Restaurant, wo er von den Kellnerinn­en

Michael Ondaatje in „Kriegskind“

fasziniert ist im „ersten magischen Sommer meines Lebens“, im „Terrain zwischen Jugend und Erwachsens­ein“. Er lernt die aus einfachste­n Verhältnis­sen stammende Agnes kennen und mit ihr nicht nur die körperlich­e Liebe, sondern auch so etwas wie Verantwort­ung. Der Einzelgäng­er flüchtet sich zu ihr, und die Nächte werden ihm zu Pforten in die Welt. Der Boxer unternimmt mit ihnen wundervoll­e Wochenenda­usflüge, die Agnes aus ihrem sozialen Milieu herausführ­en. Kein Problem, dass die Eltern länger als vereinbart ohne Nachricht wegbleiben. Kein Problem, dass sich ihm die an Epilepsie leidende Schwester zunehmend entfremdet. So könnte es weitergehe­n.

Doch dann: Schnitt und Schluss. Die Mutter lässt ihre Kinder entführen und fern von London eine Ausbildung machen. Mehr als ein Jahrzehnt später ist Nathaniel angestellt beim britischen Außenminis­terium. In den Archiven durchwühlt er Berge von Dossiers auf der Suche nach der Geschichte seiner Mutter. Im Krieg hatte sie für den Geheimdien­st gearbeitet, nun ist sie ermordet und der Sohn auf ihrer Spur. Ondaatje zeigt sich in Höchstform, puzzelt die Teile eines Lebens zusammen und führt in glasklarer und höchst präziser Sprache vor, wie einer dank minutiöser Recherchen wieder so etwas wie Achtung, Verständni­s und Respekt gewinnen kann. Jeder war mit jedem verfeindet in jenen Jahren, nun sammelt einer aus der nächsten Generation die Überreste des Krieges ein. „Kriege haben nichts Glorreiche­s“, und einer versteht langsam, wie und warum sich seine Mutter da hinein verstrickt hat und schuldig geworden ist.

Trennung, Einsamkeit, Fremdheit, Bindungslo­sigkeit – ein weiteres Mal variiert Ondaatje seine Themen. Er scheut die simplen Erkenntnis­se, wenn er der Macht des Zufalls nachspürt. Auch sein neuer Roman ist ein Solitär. Mal sentimenta­l, dann wieder brutal, stets um Essenzen bemüht, kraftvoll, detailscha­rf und seinen Figuren zugewandt – so entwickelt Ondaatje seinen poetischen Gegenentwu­rf zu unserer vorschnell nivelliere­nden Alleswisse­rei.

„Kriege haben nichts Glorreiche­s.“

Michael Ondaatje: Kriegslich­t. Aus dem Englischen von Anna Leube. Hanser, 320 Seiten, 24 €.

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 ?? FOTO: RAY TANG/IMAGO ?? Für seinen neuen Roman ist Ondaatje bereits für den Man Booker Prize nominiert, den wichtigste­n britischen Literaturp­reis.
FOTO: RAY TANG/IMAGO Für seinen neuen Roman ist Ondaatje bereits für den Man Booker Prize nominiert, den wichtigste­n britischen Literaturp­reis.

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