„Gesunder Egoismus ist wichtig“
Ein Experte erklärt, warum es nicht unbedingt hilfreich ist, empathisch zu sein.
Die Gesellschaft braucht mehr Empathie. Gerade in Zeiten von Flucht, Terror und politischen Krisen. Dem stimmt der St. Wendeler Heilpraktiker für Psychotherapie Manfred von Kannen nicht ganz zu. Im Interview erklärt er, warum Empathie schaden kann und wieso manche Ereignisse die Menschen mehr bewegen als andere.
Herr von Kannen, heute gedenken Menschen weltweit der Opfer des Atombombenabwurfes auf Hiroshima vor 73 Jahren. Wie wird ein Ereignis zu einem, das so viele Menschen berührt?
Das ist nicht ganz einfach zu beantworten. Es gibt nämlich auch Menschen, die das überhaupt nicht bewegt. Der Grund dafür ist, dass sie keine Erfahrungen gemacht haben, die ihnen ein Bezug zu dem Unglück in Hiroshima ermöglichen. Vielen führt Hiroshima jedoch eine latente Gefahr vor Augen. Rein theoretisch ist das ein Szenario, das auch bei uns eintreten könnte. Etwa wenn ein Krieg ausbrechen würde, und Konflikte gibt es derzeit ja genug auf der Welt. Außerdem sind wir hier von Atomkraftwerken umgeben, die immer wieder Sicherheitslücken aufweisen. Auch da könnte etwas passieren, was Hiroshima zumindest ähnelt. Das führt dazu, dass manche Menschen Empathie mit den Opfern von damals empfinden.
Menschen empfinden also nur Empathie, weil sie Angst haben, selbst in solch eine Situation zu geraten. Ist das nicht egoistisch?
In der Bibel steht der Satz: Du sollst deinen Nächsten lieben. Viele von uns sind damit groß geworden. Sie haben gelernt, das Leid anderer nicht zu ignorieren. Dabei wird oft der zweite Teil des Satzes vergessen. Und zwar: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Das bedeutet, ich muss zuerst für mich sorgen, damit ich auch für andere sorgen kann. Dieser Egoismus wird sehr oft falsch ausgelegt. Dabei ist er in dem ganzen Empathie-Gedanken unheimlich wichtig.
Inwiefern?
Empathie ist das Verbindungsglied zwischen dem Nichtsempfinden und dem Mitleiden. Beides ist nicht gut. Es sollte mir nicht egal sein, was da gerade passiert. Wenn ich aber zu sehr mitleide, kann ich nicht mehr helfen. Es muss also etwas dazwischen geben. Etwas, was mich in die Lage versetzt, mitzufühlen und trotzdem nicht alles zu tolerieren. Ich muss eine emotionale Distanz aufbauen können, das ist Selbstschutz. Und daher ist ein gesunder Egoismus auch so wichtig. In diesem Zusammenhang benutze ich übrigens lieber das Wort Mitgefühl und nicht Empathie.
Es gibt also einen Unterschied zwischen Empathie und Mitgefühl?
Oft wird Empathie mit Mitgefühl übersetzt. Aber es gibt für mich schon einen Unterschied. Wenn ich Empathie empfinde, habe ich oftmals keine emotionale Distanz. Nehmen wir als Beispiel eine Person, die sexuell missbraucht wurde. Wenn ich Empathie mit dieser Person habe, dann besteht die Gefahr, zusammen mit dem Opfer Hass- und Rachegefühle zu entwickeln. Die helfen aber niemandem wirklich weiter. Wenn ich Mitgefühl mit dieser Person habe, dann gelingt es mir, eine gewisse Distanz aufzubauen. Die wiederum ermöglicht es mir, das Opfer zu trösten oder mit ihm eine Lösung auszuarbeiten.
Ein Arzt oder Politiker sollte also keine Empathie empfinden, sondern Mitgefühl?
Ja, so wie ich das interpretiere, schon. Der Psychologe Paul Bloom hat mal gesagt: Wir leben heute in einer Welt mit viel zu viel Empathie. Sie führe dazu, dass wir die Distanz aufgeben und nicht mehr klar denken können. Erst wenn es uns gelinge, Gefühl und Vernunft in eine Balance zu bringen, könnten wir vielleicht etwas in der Welt verbessern.
Ist uns Empathie angeboren, oder erlernen wir sie?
Wenn wir auf die Welt kommen, starten wir, abgesehen vom Erbgut, bei null. Wir sind nicht von vornherein empathisch. Ein Mensch muss zuerst Erfahrungen sammeln, und die tragen dann dazu bei, dass er mit anderen Menschen mitfühlen kann. Je mehr Anker- beziehungsweise Anknüpfungspunkte es gibt, desto größer ist unser Mitgefühl.
Die SZ hat vergangenes Jahr über eine Katze berichtet, die in eine Falle geraten war und schwer verletzt wurde. Darauf haben wir extrem viele Rückmeldungen von den Lesern bekommen. Lösen Tiere ein besonders großes Mitgefühl aus?
Nein, es gibt auch Leute, die sagen, ist doch nur ein Stück Vieh. Aber die fallen hier weg. Sie werden von den Medien nicht veröffentlicht oder äußern sich erst gar nicht zu dem Fall, weil es ihnen egal ist. Ich würde nicht sagen, dass Tiere mehr Mitgefühl auslösen. Aber es gibt besonders viele Menschen, die in dieser Geschichte Ankerpunkte finden, etwa Tierliebhaber und Haustierbesitzer. Und je mehr Menschen sich mit einem Ereignis identifizieren können, desto größer ist die Welle der Betroffenheit.
Wie erklären Sie es sich dann, dass die Menschen das Höhlendrama in Thailand so sehr bewegt hat, die Solidarität mit den Flüchtlingen, die im Mittelmeer ertrinken, jedoch größtenteils ausbleibt?
Das ist ein anderer Hintergrund. Die 13 Jungen in der Höhle belasten kein System. Das war ein einmaliges Ereignis. Wir haben mit jedem einzelnen Kind mitgefiebert. Bei den Bootsflüchtlingen fällt der Fokus nicht mehr auf das Einzelschicksal – sondern auf uns. Viele haben Angst, dass sie durch die Flüchtlinge irgendwelche Nachteile haben. Die thailändischen Buben hatten hingegen keine Auswirkungen auf unser Leben.
Kann es sein, dass wir mit der Zeit abgestumpft sind, was die Flüchtlingsthematik betrifft?
Ja, aber nicht nur die Flüchtlingsthematik betreffend. Wir können am Tisch sitzen, essen und die schlimmsten Nachrichten in Bild und Ton über den Bildschirm laufen lassen. Das stecken wir alles weg. Wir werden totgefüttert mit solchen Nachrichten und stumpfen ab. Es muss schon etwas ganz Außergewöhnliches passieren, dass es uns noch ans Herz geht.