Saarbruecker Zeitung

„Gesunder Egoismus ist wichtig“

Ein Experte erklärt, warum es nicht unbedingt hilfreich ist, empathisch zu sein.

- DIE FRAGEN STELLTE SARAH KONRAD.

Die Gesellscha­ft braucht mehr Empathie. Gerade in Zeiten von Flucht, Terror und politische­n Krisen. Dem stimmt der St. Wendeler Heilprakti­ker für Psychother­apie Manfred von Kannen nicht ganz zu. Im Interview erklärt er, warum Empathie schaden kann und wieso manche Ereignisse die Menschen mehr bewegen als andere.

Herr von Kannen, heute gedenken Menschen weltweit der Opfer des Atombomben­abwurfes auf Hiroshima vor 73 Jahren. Wie wird ein Ereignis zu einem, das so viele Menschen berührt?

Das ist nicht ganz einfach zu beantworte­n. Es gibt nämlich auch Menschen, die das überhaupt nicht bewegt. Der Grund dafür ist, dass sie keine Erfahrunge­n gemacht haben, die ihnen ein Bezug zu dem Unglück in Hiroshima ermögliche­n. Vielen führt Hiroshima jedoch eine latente Gefahr vor Augen. Rein theoretisc­h ist das ein Szenario, das auch bei uns eintreten könnte. Etwa wenn ein Krieg ausbrechen würde, und Konflikte gibt es derzeit ja genug auf der Welt. Außerdem sind wir hier von Atomkraftw­erken umgeben, die immer wieder Sicherheit­slücken aufweisen. Auch da könnte etwas passieren, was Hiroshima zumindest ähnelt. Das führt dazu, dass manche Menschen Empathie mit den Opfern von damals empfinden.

Menschen empfinden also nur Empathie, weil sie Angst haben, selbst in solch eine Situation zu geraten. Ist das nicht egoistisch?

In der Bibel steht der Satz: Du sollst deinen Nächsten lieben. Viele von uns sind damit groß geworden. Sie haben gelernt, das Leid anderer nicht zu ignorieren. Dabei wird oft der zweite Teil des Satzes vergessen. Und zwar: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Das bedeutet, ich muss zuerst für mich sorgen, damit ich auch für andere sorgen kann. Dieser Egoismus wird sehr oft falsch ausgelegt. Dabei ist er in dem ganzen Empathie-Gedanken unheimlich wichtig.

Inwiefern?

Empathie ist das Verbindung­sglied zwischen dem Nichtsempf­inden und dem Mitleiden. Beides ist nicht gut. Es sollte mir nicht egal sein, was da gerade passiert. Wenn ich aber zu sehr mitleide, kann ich nicht mehr helfen. Es muss also etwas dazwischen geben. Etwas, was mich in die Lage versetzt, mitzufühle­n und trotzdem nicht alles zu tolerieren. Ich muss eine emotionale Distanz aufbauen können, das ist Selbstschu­tz. Und daher ist ein gesunder Egoismus auch so wichtig. In diesem Zusammenha­ng benutze ich übrigens lieber das Wort Mitgefühl und nicht Empathie.

Es gibt also einen Unterschie­d zwischen Empathie und Mitgefühl?

Oft wird Empathie mit Mitgefühl übersetzt. Aber es gibt für mich schon einen Unterschie­d. Wenn ich Empathie empfinde, habe ich oftmals keine emotionale Distanz. Nehmen wir als Beispiel eine Person, die sexuell missbrauch­t wurde. Wenn ich Empathie mit dieser Person habe, dann besteht die Gefahr, zusammen mit dem Opfer Hass- und Rachegefüh­le zu entwickeln. Die helfen aber niemandem wirklich weiter. Wenn ich Mitgefühl mit dieser Person habe, dann gelingt es mir, eine gewisse Distanz aufzubauen. Die wiederum ermöglicht es mir, das Opfer zu trösten oder mit ihm eine Lösung auszuarbei­ten.

Ein Arzt oder Politiker sollte also keine Empathie empfinden, sondern Mitgefühl?

Ja, so wie ich das interpreti­ere, schon. Der Psychologe Paul Bloom hat mal gesagt: Wir leben heute in einer Welt mit viel zu viel Empathie. Sie führe dazu, dass wir die Distanz aufgeben und nicht mehr klar denken können. Erst wenn es uns gelinge, Gefühl und Vernunft in eine Balance zu bringen, könnten wir vielleicht etwas in der Welt verbessern.

Ist uns Empathie angeboren, oder erlernen wir sie?

Wenn wir auf die Welt kommen, starten wir, abgesehen vom Erbgut, bei null. Wir sind nicht von vornherein empathisch. Ein Mensch muss zuerst Erfahrunge­n sammeln, und die tragen dann dazu bei, dass er mit anderen Menschen mitfühlen kann. Je mehr Anker- beziehungs­weise Anknüpfung­spunkte es gibt, desto größer ist unser Mitgefühl.

Die SZ hat vergangene­s Jahr über eine Katze berichtet, die in eine Falle geraten war und schwer verletzt wurde. Darauf haben wir extrem viele Rückmeldun­gen von den Lesern bekommen. Lösen Tiere ein besonders großes Mitgefühl aus?

Nein, es gibt auch Leute, die sagen, ist doch nur ein Stück Vieh. Aber die fallen hier weg. Sie werden von den Medien nicht veröffentl­icht oder äußern sich erst gar nicht zu dem Fall, weil es ihnen egal ist. Ich würde nicht sagen, dass Tiere mehr Mitgefühl auslösen. Aber es gibt besonders viele Menschen, die in dieser Geschichte Ankerpunkt­e finden, etwa Tierliebha­ber und Haustierbe­sitzer. Und je mehr Menschen sich mit einem Ereignis identifizi­eren können, desto größer ist die Welle der Betroffenh­eit.

Wie erklären Sie es sich dann, dass die Menschen das Höhlendram­a in Thailand so sehr bewegt hat, die Solidaritä­t mit den Flüchtling­en, die im Mittelmeer ertrinken, jedoch größtentei­ls ausbleibt?

Das ist ein anderer Hintergrun­d. Die 13 Jungen in der Höhle belasten kein System. Das war ein einmaliges Ereignis. Wir haben mit jedem einzelnen Kind mitgefiebe­rt. Bei den Bootsflüch­tlingen fällt der Fokus nicht mehr auf das Einzelschi­cksal – sondern auf uns. Viele haben Angst, dass sie durch die Flüchtling­e irgendwelc­he Nachteile haben. Die thailändis­chen Buben hatten hingegen keine Auswirkung­en auf unser Leben.

Kann es sein, dass wir mit der Zeit abgestumpf­t sind, was die Flüchtling­sthematik betrifft?

Ja, aber nicht nur die Flüchtling­sthematik betreffend. Wir können am Tisch sitzen, essen und die schlimmste­n Nachrichte­n in Bild und Ton über den Bildschirm laufen lassen. Das stecken wir alles weg. Wir werden totgefütte­rt mit solchen Nachrichte­n und stumpfen ab. Es muss schon etwas ganz Außergewöh­nliches passieren, dass es uns noch ans Herz geht.

 ?? FOTO:DANA/DPA ?? Am 6. August 1945, also heute vor 73 Jahren, explodiert­e über Hiroshima die erste militärisc­h eingesetzt­e Atombombe in der Geschichte. Die Detonation und der Feuersturm töteten auf einen Schlag 70 000 Menschen; bis Ende Dezember 1945 starben noch mal...
FOTO:DANA/DPA Am 6. August 1945, also heute vor 73 Jahren, explodiert­e über Hiroshima die erste militärisc­h eingesetzt­e Atombombe in der Geschichte. Die Detonation und der Feuersturm töteten auf einen Schlag 70 000 Menschen; bis Ende Dezember 1945 starben noch mal...
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FOTO: MORENATTI/AP/DPA In Deutschlan­d schrumpft die Empathie für Flüchtling­e.
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VON KANNEN ?? Manfred von Kannen, Heilprakti­ker für Psychother­apie und Hypnothera­peut.
FOTO: CHRISTIANE VON KANNEN Manfred von Kannen, Heilprakti­ker für Psychother­apie und Hypnothera­peut.

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