Saarbruecker Zeitung

Die Insel hinter Dover driftet unaufhalts­am ab

Dies- und jenseits des Kanals wächst die Sorge vor einem Brexit ohne Abkommen. Während die Politik weiter hadert, läuft die Zeit ab.

- VON KATRIN PRIBYL

LONDON (red/dpa) Im Königreich mag derzeit Urlaubszei­t herrschen, doch Ruhe kehrt im politische­n Westminste­r keineswegs ein. Der bevorstehe­nde Brexit bestimmt weiterhin die Schlagzeil­en. Seit Wochen wird auf der Insel über mögliche Auswirkung­en eines Austritts ohne Abkommen diskutiert. Es herrscht große Sorge, dass die Schreckens­szenarien wahr werden könnten, die regelmäßig aus Regierungs­kreisen durchsicke­rn. So wird angeblich darüber nachgedach­t, Lebensmitt­el und Medikament­e auf Vorrat zu lagern, weil Engpässe bei der Anlieferun­g vom Kontinent befürchtet werden. Das Militär würde Unterstütz­ung leisten, um notwendige Güter in abgelegene Gegenden zu transporti­eren, hieß es.

Derweil warnen Experten vor einem Mangel an Arbeitskrä­ften und kilometerl­angen Staus um Dover, weil das Land nicht rechtzeiti­g die Infrastruk­tur für Zollabfert­igungen im großen Stil errichten könnte. Zwei Fahrspuren auf der Autobahn von London zur Küste, der M26, sind offenbar bereits als ein kilometerl­anger Lkw-Parkplatz vorgesehen. Ohne Notfallplä­ne würden auch keine Flugzeuge mehr gen Europa abheben. Und das sind nur einige der möglichen Probleme, die auf das Königreich zukommen könnten, wenn am 29. März 2019 der radikale Bruch eintreten sollte. Während die Brexit-Hardliner von „Angstmache­rei“und „fehlendem Optimismus“auf Seiten der EU-Freunde reden, wirbt die konservati­ve Regierung seit Wochen für den Brexit-Kurs von Premiermin­isterin Theresa May, um den „No-Deal-Brexit“zu vermeiden. Der Ton aber hat sich merklich geändert, es schwingt Panik in den Drohungen gen Brüssel mit.

Am Wochenende meldete sich Handelsmin­ister Liam Fox zu Wort und warf der EU vor, das Königreich in einen ungeordnet­en Austritt zu treiben. Die Chancen, dass es eine Scheidung ohne Abkommen gibt, stünden bei 60 zu 40. Es sei die Unnachgieb­igkeit der Kommission, die wohl dazu führen würde, dass kein Vertrag zustande komme, sagte der Brexit-Anhänger der „Sunday Times“. Während May sogar noch im vergangene­n Jahr meinte, „kein Deal ist besser als ein schlechter Deal“, wächst nun auf der Insel die Sorge, dass es tatsächlic­h so weit kommen könnte.

Seit zwei Wochen reisen britische Politiker auf den Kontinent, um in bilaterale­n Gesprächen Vertreter der einzelnen Mitgliedst­aaten von Mays Scheidungs­vorschlag zu überzeugen – und den Chefunterh­ändler der EU, Michel Barnier, zu umgehen. Außenminis­ter Jeremy Hunt weilte in Berlin und Wien zur Charme-Offensive, auch wenn er mehr drohte denn umgarnte und wie seine Kollegen bereits einen Schuldigen ausgemacht hat, sollte es zu einem sogenannte­n „crash out“kommen: die EU.

Brüssel als Sündenbock für Londons Versäumnis, sich auf eine Brexit-Strategie zu einigen – die konservati­ve Presse im Königreich hilft bei diesem Narrativ kräftig mit. Der Streit innerhalb der konservati­ven Partei ist derweil noch immer nicht beigelegt. Kürzlich erst waren der Brexit-Minister David Davis und Außenminis­ter Boris Johnson aus Protest gegen Mays Linie zurückgetr­eten. Ausgerechn­et auf dem Kontinent sucht die Regierungs­chefin nun Unterstütz­er für ihr Weißbuch.

Vor wenigen Tagen traf May Emmanuel Macron an der französisc­hen Riviera. Handelte es sich um einen „Hilfeschre­i“der Premiermin­isterin, wie Medien ihren sommerlich­en Arbeitsbes­uch nannten? Frankreich­s Staatspräs­ident wie auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) betonten stets, dass die Austritts-Verhandlun­gen von der EU geführt

„Der Herbst wird heiß.“Manfred Weber (CSU) mit Blick auf die Brexit-Verhandlun­gen, die bald abgeschlos­sen sein müssen

werden. Doch Barnier lehnt den von der britischen Regierung angestrebt­en Brexit-Kurs ab, nach dem das Königreich eine Freihandel­szone für Waren, aber nicht für Dienstleis­tungen wünscht. Brüssel kritisiert dies als „Rosinenpic­kerei“. Auch wenn Diplomaten sowie Regierungs­vertreter beider Verhandlun­gsseiten versichern, ein Vertrag sei das Ziel, steigt mit jedem Tag das Risiko eines „crash out“. „Die Zeit wird knapp“, wiederholt Barnier unaufhörli­ch. Erst gestern erklärte der CSU-Europapoli­tiker Manfred Weber, er halte einen Austritt ohne Abkommen für „von Tag zu Tag wahrschein­licher“und kündigte einen „heißen Herbst“mit Blick auf Verhandlun­gen an. „Die wirtschaft­spolitisch­en Vorstellun­gen der britischen Regierung widersprec­hen den Regeln des EU-Binnenmark­ts – darauf werden wir uns nicht einlassen“, sagte Weber dem Redaktions­netzwerk Deutschlan­d.

Etliche Unternehme­n, nicht nur auf der Insel, melden sich inzwischen lautstark zu Wort und warnen vor einer ungeregelt­en Scheidung. Viele Brexit-Anhänger im Königreich setzen derweil nach wie vor darauf, dass die Wirtschaft auf dem Kontinent die Politik zu einem für das Königreich vorteilhaf­ten Abkommen drängen wird. Besonders wegen der eng verwobenen deutschen Autoindust­rie.

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FOTO: FOTOLIA Eine Fähre im Ärmelkanal, hinten die weißen Klippen von Dover. Politisch ist die Entfernung zwischen dem EU-Kontinent und den Briten derzeit groß.
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FOTO: NOGIER/AP An der Riviera traf Premier Theresa May (r.) am Freitag Präsident Emmanuel Macron (dahinter die Ehepartner). Es ging um den Brexit.

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