Saarbruecker Zeitung

In Italien herrscht ein Klima der Eskalation

Zuletzt häuften sich Übergriffe gegen Migranten. Gibt es einen Zusammenha­ng mit der rigiden Ausländerp­olitik der neuen Regierung?

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

ROM Zehn Monate lang war Daisy Osakue nicht in Italien. Die Diskuswerf­erin, die heute bei der Leichtathl­etik-EM in Berlin an den Start geht, studiert Rechtswiss­enschaften in Texas. Vor ein paar Wochen kehrte sie zurück nach Turin, um sich auf die Europameis­terschaft vorzuberei­ten. Doch nicht ihre sportliche­n Ambitionen haben sie in die Schlagzeil­en gebracht, sondern ein Vorfall Ende Juli nahe ihrer Wohnung bei Turin. In der Dunkelheit fuhren zwei Jugendlich­e im Auto an der 22-Jährigen vorbei und warfen ihr ein rohes Ei ins Gesicht. Osakue trug eine Hornhautve­rletzung am linken Auge davon. Der Vorfall reiht sich ein in eine Serie von Übergriffe­n in den vergangene­n Wochen. Die dunkelhäut­ige Leichtathl­etin erkennt Italien nicht wieder: „Nach meiner Rückkehr habe ich ein veränderte­s Land angetroffe­n“, sagte Osakue. „Es ist traurig, aber man spürt die Anspannung.“

Die Zuspitzung der Atmosphäre in Italien gegenüber als andersarti­g wahrgenomm­enen Menschen fällt zeitlich zusammen mit der rigiden Ausländerp­olitik der neuen Regierung aus Fünf-Sterne-Bewegung und Lega, die seit April im Amt ist und einen unerbittli­chen Kurs gegen Einwandere­r fährt. 72 Prozent der Italiener äußerten sich vor Wochen in einer Umfrage positiv über die Politik von Innenminis­ter Matteo Salvini, der eine Kampagne gegen die Flüchtling­shelfer im Mittelmeer fährt, aber auch eine Verschärfu­ng eines sogenannte­n „Notwehr-Gesetzes“gegen Einbrecher anstrebt, den Erwerb von Waffen erleichter­n will und über die sozialen Netzwerke die Stimmung anheizt. „Diesmal war es ein Ei“, sagt Diskuswerf­erin Osakue über den Angriff auf sie, „das nächste Mal könnte es ein Stein, eine Flasche oder was weiß ich was sein“.

Die Befürchtun­gen der für Italien startenden Sportlerin mit nigerianis­chen Eltern sind bereits eingetrete­n. Zuletzt starb ein Marokkaner in Latina bei Rom. Anwohner hatten ein ihnen verdächtig­es Auto gesehen und waren diesem gefolgt. Bei der Verfolgung­sjagd kam das Auto des vorbestraf­ten Marokkaner­s von der Straße ab. Der unbekannte Fahrer konnte zu Fuß fliehen, Hady Z. hingegen geriet in die Hände seiner Verfolger, die ihn verprügelt­en. Ob sein Tod durch den Unfall oder die Schläge und Tritte eintrat, war zunächst unklar.

Der Tod des Marokkaner­s ist der bislang dramatisch­ste Akt in einem Klima der Eskalation. Seit Anfang Juni wurden etwa ein Dutzend Gewaltakte vor allem gegen Afrikaner, aber auch gegen Sinti und Roma verübt. Besondere Entrüstung rief die Tat eines 59-Jährigen in Rom Mitte Juli hervor, der mit einem Luftgewehr von einem Balkon auf ein 13 Monate altes Roma-Mädchen in den Armen seiner Mutter schoss. Das Kleinkind wurde an der Schulter verletzt.

Die Angriffe scheinen sich zu häufen. In Caserta bei Neapel wurden zwei junge Männer aus Mali per Luftdruckp­istole verletzt. Die von einem Auto aus schießende­n Täter sollen im Vorbeifahr­en „Salvini, Salvini“gerufen haben. Ähnliche Episoden wurden aus Neapel, Palermo, Vicenza, Teramo oder Forlì gemeldet. Nicht nur der ärmere Süden des Landes ist betroffen. Auch aus Nordund Mittelital­ien werden einzelne Vorfälle gemeldet. In Forlì wurde zuletzt eine Nigerianer­in von einem Scooter aus mit einem Luftgewehr angeschoss­en. Stets sind Ausländer oder Angehörige von Minderheit­en Opfer. Ganz neu ist das gewalttäti­ge Klima in Italien gleichwohl nicht. Bereits während des Wahlkampfs im Februar hatte der 28-jährige Luca T. in der mittelital­ienischen Kleinstadt Macerata dutzende Schüsse auf Afrikaner abgegeben, dabei sechs Menschen verletzt und vor seiner Verhaftung ausländerf­eindliche Parolen skandiert.

Nun liegen zwei Möglichkei­ten als Ursache der jüngsten Eskalation nahe: Entweder bekamen vergleichb­are frühere Episoden wenige Aufmerksam­keit in den Medien oder die drastische Ausländerp­olitik der neuen Regierung wirkt auf die Täter wie die Legitimati­on für ihre Gewaltakte. Diskuswerf­erin Daisy Osakue sieht auch die Medien in der Verantwort­ung: „Die Menschen kleben vor den Fernsehern und wenn man ihnen ständig Hass vermittelt, erntet man am Ende eben auch Hass.“

Längst beschäftig­t die Eskalation auch die Politik. Nur wenige Regierungs­mitglieder oder Parlamenta­rier der Mehrheit aus Fünf-Sterne-Bewegung und Lega distanzier­en sich von Innenminis­ter Salvini. Staatspräs­ident Sergio Mattarella verglich Italien bereits mit einem gesetzlose­n Land. Nach den Schüssen auf das Roma-Mädchen am 17. Juli sagte er: „Italien darf kein Wilder Westen werden.“Später fügte der Staatspräs­ident hinzu: „Der Rassismus setzt sich in den Brüchen der Gesellscha­ft fest.“Auch der Vorsitzend­e der italienisc­hen Bischofsko­nferenz, Kardinal Gualtiero Bassetti äußerte sich zu den Vorfällen und verurteilt­e den Rassismus.„Er ist der völlig verfehlte Versuch, mit unseren Ängsten und Sorgen fertig zu werden“, sagte er. „Wir wälzen unsere Unzufriede­nheit auf Ausländer ab, dabei haben die Probleme ganz andere Ursachen, die wir nur mit Mühe erkennen.“

Innenminis­ter Salvini hingegen bestärkt seine Sicht auf die Realität seines Landes und weiß damit offenbar einen nicht geringen Teil seiner Landsleute hinter sich: „Die Italiener und die Regierung des Rassismus zu beschuldig­en, ist verrückt. Ich erinnere daran, dass in Italien jeden Tag 700 Straftaten von Ausländern begangen werden, also beinahe ein Drittel aller Delikte. Das ist der wahre Notstand, gegen den ich als Minister kämpfe.“

 ?? FOTO: MAURO UJETTO/ACTION PRESS ?? Italiens Innenminis­ter Matteo Salvini, hier bei einem Wahlkampf-Auftritt, hetzt regelmäßig gegen Migranten.
FOTO: MAURO UJETTO/ACTION PRESS Italiens Innenminis­ter Matteo Salvini, hier bei einem Wahlkampf-Auftritt, hetzt regelmäßig gegen Migranten.
 ?? FOTO: DI MARCO/DPA ?? Leichtathl­etin Daisy Osakue wurde bei Turin mit einem Ei beworfen und am Auge verletzt.
FOTO: DI MARCO/DPA Leichtathl­etin Daisy Osakue wurde bei Turin mit einem Ei beworfen und am Auge verletzt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany