Saarbruecker Zeitung

Der Ex-Chef, der den Rückzug verweigert

Cem Özdemir ist kein Grünen-Vorsitzend­er mehr, sondern politisch eigentlich in die dritte Reihe gerückt – und bleibt trotzdem präsent. Wohin soll das führen?

- VON TERESA DAPP Produktion dieser Seite: Gerrit Dauelsberg Pascal Becher

BERLIN (dpa) Vom dritten Stock ist Cem Özdemir ins Souterrain umgezogen. Als Chef der Grünen hat der 52-Jährige noch in der Grünen-Zentrale von oben auf Bäume geschaut. Der Blick im Büro des Vorsitzend­en des Ausschusse­s für Verkehr und Digitalisi­erung geht auf einen spärlichen Hof des Paul-Löbe-Hauses, das zum Bundestag gehört.

Es gibt verschiede­ne Erzählunge­n dazu, warum Özdemir nun diesen Job hat. Ein Vorsitz mit mehr Prestige, etwa des Außen- oder des Europaauss­chusses, sei für die kleinste Fraktion unerreichb­ar gewesen. Verkehr und Digitalisi­erung passten als Themen doch perfekt.

Eine andere Fassung: Özdemir ist Verkehrsau­sschuss-Vorsitzend­er, weil ihn die beiden Fraktionsc­hefs der Grünen, Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter, aus dem Rampenlich­t nehmen wollten. Weil Özdemir vor allem Göring-Eckardt, mit der er im Bundestags­wahlkampf das Spitzenduo gebildet hat, gefährlich werden könnte. So oder so: Auf dem Papier ist Özdemir von der ersten in die dritte Reihe gerückt.

Und in Wirklichke­it? Hält er sich hartnäckig in der Liste der wichtigste­n Politiker im Politbarom­eter der Forschungs­gruppe Wahlen – zwischenze­itlich sogar als beliebtest­er Politiker Deutschlan­ds, ein Platz, den sonst eher Außenminis­ter einnehmen. Wer auf dieser Liste landet, entscheide­n nicht die Umfrage-Macher, sondern die Bürger.

Auch sonst: Özdemir auf allen Kanälen. Wenn Mesut Özil mit seinem Rücktritt aus der Nationalma­nnschaft eine Integratio­ns- und Rassismusd­ebatte lostritt: Wer böte sich als Gesprächsp­artner besser an als der Gastarbeit­er-Sohn, der sich durchgekäm­pft hat und auf schwäbisch den VfB Stuttgart anfeuert? Wenn Erdogan auf Staatsbesu­ch nach Deutschlan­d kommen soll, wird einer seiner schärfsten Kritiker befragt, der immer noch Polizeisch­utz braucht, weil türkische Nationalis­ten ihn bedrohen. Seine Anti-AfD-Rede im Bundestag machte Furore. Selbst die „New York Times“hat schon jemanden in seinem Büro vorbeigesc­hickt.

„So lange er medial sichtbar bleibt, kann er auch unabhängig von formalen Führungsäm­tern von der Bevölkerun­g als einer der wichtigste­n Politiker wahrgenomm­en werden“, sagt Matthias Jung, Vorstand der Forschungs­gruppe Wahlen. Özdemir komme zugute, dass er relativ wenig polarisier­e und auch von den Anhängern anderer Parteien recht positive Bewertunge­n erhalte.

Dabei galt Özdemir zunächst als der große Verlierer: Die Jamaika-Verhandlun­gen von Union, FDP und Grünen platzen, und mit ihnen der Traum vom Ministeram­t – viele hatten ihn schon als Außenminis­ter gesehen, er selbst sich vielleicht auch. Das Amt des Parteivors­itzenden gab er nach mehr als neun Jahren freiwillig ab. Für den Fraktionsv­orsitz reichte die interne Unterstütz­ung nicht, wie er selbst einräumte. Özdemir kann auch Menschen vor den Kopf stoßen, vor allem linke Grüne. Nur ein Beispiel: Dass er Daimler-Boss Dieter Zetsche zum Parteitag einlud, kam bei vielen gar nicht gut an.

Nun äußert sich der gelernte Erzieher ganz zufrieden mit seiner Lage. „Ich muss nicht zu jedem Thema einen Halbsatz raushauen. Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruk­tur leistet gute Arbeit ins Parlament hinein“, sagt er. „Im Dialog mit Wirtschaft­sbossen oder EU-Kommissare­n hilft, dass mein Name nicht ganz unbekannt ist.“

Dass er immer wieder über die Parteigren­zen hinaus punktet, erklärt er auch mit seiner Herkunft als Deutsch-Türke auf der Schwäbisch­en Alb: „Ich habe immer mitbekomme­n: Es gibt da draußen noch andere Lebenswelt­en als meine. Du musst dich mit Neugierde darauf einlassen. Welches Recht der Welt hätte ich, mich darüber zu erheben oder diese lächerlich zu machen?“

Katrin Göring-Eckardt dürfte all das genau beobachten. Obwohl die Grünen mit ihr und Özdemir als Spitzenkan­didaten ihre Wahlziele verfehlten und mit 8,9 Prozent kleinste von sechs Fraktionen im Bundestag wurden, hielt die 52-Jährige sich an der Fraktionss­pitze. Gerade hat sie via „Spiegel Online“angekündig­t, sie wolle auch 2019 wieder für den Fraktionsv­orsitz kandidiere­n. Özdemir-Fans schütteln den Kopf: Das müsse doch der beliebtest­e Grüne machen. So viel politische­s Talent dürfe nicht verschenkt werden.

Göring-Eckardt zitiert im Interview auch fast wörtlich den neuen Parteichef Robert Habeck. Die Grünen müssten radikaler werden, um realistisc­h zu sein, diesen schwer verständli­chen Gedanken hat er zuerst formuliert. Die grüne Musik spielt jetzt weniger im Bundestag und mehr in der Parteizent­rale, bei Habeck und Annalena Baerbock, Özdemirs Nachfolger­n. Sie ist erst 37, er wirkt jünger als 48. Beide sind – vorerst jedenfalls – bei den Bürgern längst nicht so bekannt wie Özdemir. Trotzdem ist klar, dass er und Göring-Eckardt nicht mehr den ersten Zugriff auf die Spitzenkan­didatur hätten, wenn die große Koalition auseinande­rbrechen würde.

Einen Machtkampf Özdemirs mit Göring-Eckardt um den Fraktionsv­orsitz halten viele für denkbar. Das beträfe auch Anton Hofreiter vom linken Parteiflüg­el. Zwei Männer dürfen sich die Fraktionss­pitze nicht teilen. Theoretisc­h wäre zwar denkbar, dass zwei „Realos“vom pragmatisc­hen Parteiflüg­el ganz vorn stehen, also auch Özdemir mit Göring-Eckardt. Aber dass die Grünen ihre Flügel-Parität für einen „Hardcore-Realo“aus der baden-württember­gischen Schule um Winfried Kretschman­n beiseite legen, ist wohl nahezu ausgeschlo­ssen.

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FOTO: STEFAN PUCHNER/DPA Der ehemalige Parteivors­itzende der Grünen, Cem Özdemir, gehört weiterhin zu den beliebtest­en Politikern in Deutschlan­d.

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