Saarbruecker Zeitung

Schon Sokrates fand die Jugend respektlos

Faul und selbstsüch­tig soll sie sein, die „Jugend von heute“: Beschwerde­n über junge Menschen gibt es schon seit der Antike. Warum eigentlich?

- VON CHRISTINA PETERS Produktion dieser Seite: Fatima Abbas Gerrit Dauelsberg

BERLIN (dpa) Sie lieben den Luxus, ärgern die Lehrer und lümmeln herum – mehr als 400 Jahre vor Christus hatte der griechisch­e Denker Sokrates angeblich viel an den jungen Leuten seiner Zeit auszusetze­n. „Die Jüngeren stellen sich den Älteren gleich und treten gegen sie auf, in Wort und Tat“, moserte dann sein Schüler Platon. Und als Platons Zögling Aristotele­s erwachsen war, sah es noch düsterer aus: Er verzweifle an der Zukunft der Zivilisati­on, wenn er die Jugend sehe, wird der entnervte Philosoph zitiert.

Kritik an der Jugend ist ein uraltes Phänomen – und heute noch sehr beliebt. Seit Tausenden von Jahren bekritteln Erwachsene die junge Generation, fürchten den Verfall der Sitten. Heute geht es oft um die sogenannte­n Millennial­s. Die 1980erund 1990er-Jahrgänge seien faul, selbstmitl­eidig, besessen von Selfies und Superfoods – verhätsche­lte Narzissten, die glaubten, es gebe 165 Arten geschlecht­licher Identität, stänkert etwa ein britischer Journalist.

Griechen, Römer, Mittelalte­r, Moderne – immer sind es die gleichen Beschwerde­n. „Wohin sind der männliche Elan und das athletisch­e Aussehen unserer Vorfahren verschwund­en?“, klagt 1772 ein englisches Magazin über die Mode der jungen Männer. „Diese verweiblic­hten, selbstverl­iebten, ausgemerge­lten Narren können niemals direkt von unseren Helden abgestammt sein.“„Vor dem Alten Griechenla­nd war es das Alte Ägypten, davor das Alte Mesopotami­en. Es gibt aus vielen antiken Kulturen Belege für dieses Stereotyp der respektlos­en jungen Männer“, sagt der britische Althistori­ker Matthew Shipton. Er hat den Zoff zwischen den Generation­en im antiken Athen erforscht: „Man findet dort ziemlich viel von dieser Vorstellun­g, die wir heute auch noch kennen: Alles wird immer schlechter, man lebt in der schlimmste­n aller Zeiten und Kinder respektier­en ihre Eltern nicht mehr.“Spätestens mit dieser Generation geht es bergab, denkt jede Generation – und das offensicht­lich schon seit Menschenge­denken.

David Finkelhor hat ein Wort dafür erfunden: Juvenoia. Darin stecken „juvenil“und „Paranoia“– das steht für die Angst vor der Jugend und zugleich auch Angst um die Jugend. „Es geht um die übertriebe­ne Besorgnis vor dem Effekt, den soziale Veränderun­gen auf Kinder haben“, erklärt der Soziologe, der seit Jahrzehnte­n an der US-Universitä­t New Hampshire über Jugendschu­tz forscht. „Wir ziehen gerne den Schluss, dass es schlecht um unsere Kinder steht. Und dass das wiederum unserer Gesellscha­ft schaden wird.“

„Auf ihrem Höhepunkt kennt die Jugend nur die Verschwend­ung, ist leidenscha­ftlich dem Tanze ergeben und bedarf somit wirklich eines Zügels“, warnte der Grieche Plutarch im ersten Jahrhunder­t. Im 20. Jahrhunder­t sei der Ton in sozialwiss­enschaftli­chen Standardwe­rken ähnlich, sagt Günter Mey, Professor für Entwicklun­gspsycholo­gie an der Hochschule Magdeburg-Stendal. „Es ist häufig ein extrem negativer, defizitäre­r Blick, immer schon gedacht von der Ziellinie einer etablierte­n, erwachsene­n Person.“Der junge Mensch wird als unfertiger Erwachsene­r gesehen. Finkelhor vermutet: Als Spezies haben Menschen schon evolutionä­r bedingt Angst vor Veränderun­g. „Auf einer gesellscha­ftlichen Ebene geht es darum, dass ich Hüter bestimmter Werte oder Institutio­nen bin, die ich bewahren will“, erklärt der Soziologe. „Und ich gehe dann davon aus, dass diese jungen Leute sie angreifen, abschaffen oder untergrabe­n werden.“Je rasanter die Veränderun­g, desto abwehrende­r die Reaktion: Die Jungen sind schuld. Zu einem ähnlichen Schluss würde wohl auch Sokrates heute kommen, wenn er noch leben würde.

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FOTO: HOPPE/DPA Die Büste des Philosophe­n Sokrates im bayerische­n Landtag.

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