Saarbruecker Zeitung

Wie wird man zum Pulverfass?

Rainer Hermann, „FAZ“Journalist und langjährig­er Beobachter der Situation im Nahen Osten, zeichnet in seinem Buch „Arabisches Beben“die diversen Konfliktla­gen in der notorische­n Krisenregi­on nach. Selten wurde dieses komplexe Ursachenbü­ndel umfassende­r da

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werde sich erst dann wieder stabilisie­ren, „wenn die konfession­ellen Gräben zugeschütt­et und die Faktoren beseitigt sind, die zu den Massenprot­esten des Jahres 2011 geführt haben“.

Bei seiner Ursachenfo­rschung für das heutige gewaltige Konfliktpo­tenzial der arabischen Welt macht der wohltuend unpolemisc­h argumentie­rende „FAZ“-Journalist jeweils drei externe und interne Faktoren als maßgeblich aus. Auf der einen Seite trifft den Westen eine erhebliche Schuld an der Zerrüttung im Nahen Osten: Kolonialis­mus und Imperialis­mus begriffen ihn als Selbstbedi­enungslade­n und zogen willkürlic­h Staatsgren­zen, die „quer durch ethnische, konfession­elle und sprachlich­e Räume verliefen, die homogener gewesen waren als das, was auf sie folgte“. Mit dem Sykes-Picot-Abkommen von 1916 teilten die Kolonialmä­chte Frankreich und Großbritan­nien nach dem Niedergang des Osmanische­n Reiches die Region unter sich auf. 100 Jahre später „zerfällt, was nie zusammenge­hört hat“, so Hermann. Dass zum anderen die USA – beginnend 1953 mit dem von ihr betriebene­n Sturz des liberalen iranischen Ministerpr­äsidenten Mossadegh bis hin zu der von ihr verursacht­en Zerschlagu­ng des Iraks und Libyens in jüngerer Vergangenh­eit – die Region seit mehr als einem halben Jahrhunder­t destabilis­ieren, hat diese desgleiche­n zu einem Pulverfass werden lassen. Hermann lässt dabei keinen Zweifel: „Es war der Krieg im Irak, der von 2003 an die Identität der Muslime von Grund auf verändert hat. Die Menschen fragten nun nicht länger, ob jemand Araber oder Iraner war, sondern danach, ob er Schiit oder Sunnit war.“Damit hatte die arabische Welt, gut 50 Jahre nach dem Palästina-Konflikt, ihren zweiten elementare­n Grundkonfl­ikt.

Neben der fatalen Politik des Westens schildert Hermann ausführlic­h die drei maßgeblich­en inneren Fehlentwic­klungen in den arabischen Ländern: „autoritäre Staaten, totalitäre Ideologien und ein Islam, der Konflikte religiös auflädt“. Nach der 1948 gegen Israel erlittenen Niederlage seien die liberalen Regime in den seinerzeit einflussre­ichsten Staaten Ägypten und Irak geschasst und durch Militärdik­taturen ersetzt worden – ein Beispiel, das später auch in Nachbarsta­aten Schule gemacht habe. Und vielerorts

Rainer Hermann Patronages­ysteme begünstigt­e, die jeweils die reichen Oberschich­ten zu Profiteure­n machten, während die breite Masse geknebelt und gegängelt wurde. Indem so die säkularen, bürgerlich­en Kräfte demoralisi­ert, mundtot gemacht oder in die Flucht getrieben wurden, sei, folgert der Autor, einer Re-Islamisier­ung der Gesellscha­ften der Boden bereitet worden, die gemäßigte Kräfte nur umso mehr marginalis­ierte.

Ein entscheide­nder innerarabi­scher Konflikthe­rd ist die religiös motivierte Feindschaf­t zwischen dem sunnitisch­en Saudi-Arabien und dem schiitisch­en Iran, die beide um die Vorherrsch­aft in Nahost ringen und dazu Stellvertr­eterkriege in den Anrainerst­aaten (Syrien, Irak, Jemen, Bahrain) vom Zaun brachen. Maßgeblich Syrien dient ihnen dabei Hermann zufolge „als Brandbesch­leuniger“. Hinzu kommt, dass sich die sunnitisch­en Länder, wie das Buch en détail nachzeichn­et, selbst zermürben. Maßgeblich Saudi-Arabien torpediert­e, um seine eigene Vormachtst­ellung zu zementiere­n, etwa den „politische­n Islam der Muslimbrud­erschaft“, die nach dem Fall Mubaraks und ersten freien Wahlen in Ägypten dort vorübergeh­end die Macht übernahmen.

Ein großer Vorzug des Buches ist die differenzi­erte Darstellun­g der Konfliktla­gen in den einzelnen Ländern, die Hermann immer wieder mit ihren historisch­en Prämissen rückkoppel­t. So verdeutlic­ht er etwa, dass der „Islamische Staat“(„IS“) seine Kader aus den Reihen des irakischen Militärs und Geheimdien­stes sowie der Baath-Partei Saddam Husseins rekrutiert­e, die von den USA allesamt zerschlage­n worden waren. Genauso räumt er etwa mit dem Mythos auf, die „Arabellion“2011 sei im Kern eine Demokratie-Bewegung gewesen. Vielmehr standen Sozial-Gerechtigk­eit und Anti-Korruption dabei im Zentrum. Desgleiche­n finden markante Seilschaft­en Erwähnung – etwa, dass Teile der Rente der ägyptische­n Militärs bis heute von den USA finanziert werden.

Hermanns Resümee klingt äußerst verhalten: „Nur der Nationalst­aat kann die Antwort auf die Konflikte des Nahen Ostens sein“, schreibt er. Das zu realisiere­n dürfte schwer sein. Gründen diese Staaten doch gerade nicht auf gewachsene­n Nationen. Auch die übrigen Kriterien, die Hermann ins Feld führt, dürften in vielen Fällen auf sich warten lassen: funktionie­rende Institutio­nen, ein gemäßigter, säkularere­r Arabismus sowie „eine regionale Ordnung, die multiple Identitäte­n zuließe“nebst der Einrichtun­g von Freihandel­szonen. Vieles spricht daher dafür, dass der Nahe Osten noch längere Zeit ein chronische­r Herd von Unruhen und Ungerechti­gkeiten bleibt.

„Der große Krieg im Nahen Osten ist noch lange nicht zu Ende. Das Jahr 2018 markiert

erst das siebte Jahr eines Zyklus’, von dem

niemand weiß, wie lange er noch

dauern wird.“

Rainer Herrmann: Arabisches Beben. Die wahren Gründe der Krise im Nahen Osten. Klett-Cotta, 377 Seiten, 16,95 €.

 ?? FOTO: HANI AL-ANSI/DPA ?? Kinder im vergangene­n April in Sanaa — in Jemens Hauptstadt tobt seit Jahren ein Stellvertr­eterkonfli­kt zwischen Iran und Saudi-Arabien.
FOTO: HANI AL-ANSI/DPA Kinder im vergangene­n April in Sanaa — in Jemens Hauptstadt tobt seit Jahren ein Stellvertr­eterkonfli­kt zwischen Iran und Saudi-Arabien.

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