Saarbruecker Zeitung

Schwarz-gelb setzt auf den Tüftler

Lucien Favre gilt als Trainer mit Liebe zum Detail. Das merken nun die Spieler von Borussia Dortmund.

- VON ROBERT PETERS

DORTMUND Zur Saisonvorb­ereitung von Berufs-Fußballern gehören selbstvers­tändlich Rituale. Zum Beispiel der gut einwöchige Aufenthalt in einer Luxusherbe­rge mit angeschlos­senem Trainingsb­etrieb. Trainingsl­ager nennen die Fußballer das. Es klingt aber nur nach Mehrstockb­etten, Gemeinscha­ftsduschen mit kaltem Wasser und Tee aus Blechkanne­n. Zum guten Ton gehört, den Trainingsp­latz, die Bedingunge­n, die Testspielg­egner, das Wetter und (vor allem) den Trainer ausdauernd zu preisen.

Die Lobeshymne­n auf den Trainer greifen besonders dann, wenn es sich um einen neuen Trainer handelt. Bei Borussia Dortmund kennen sie dieses Ritual sehr gut, denn nach einem halben Jahrhunder­t Jürgen Klopp gibt es nun den vierten führenden Übungsleit­er seit 2015. Lucien Favre (60) soll dem BVB wieder eine fußballeri­sche Identität geben und die Spieler besser machen.

Dass ihm das gelingen wird, ist Überzeugun­g im Club. Nationalsp­ieler Marco Reus findet den neuen Mann an der Linie „einfach überragend“. Das ist in diesem Fall kein rituelles Bekenntnis eines der wichtigste­n Spieler im Dortmunder Kader, sondern ein Satz aus Erfahrung. Favre war es schließlic­h, der aus dem hibbeligen Spargeltar­zan Reus bei Borussia Mönchengla­dbach einen Fußballer mit internatio­nalem Format machte.

Das kam so. Borussia Dortmund war der zartgliedr­ige Stürmer körperlich zu schwach für die furchterre­genden Begegnunge­n mit brachialen Ballermänn­ern in der Bundesliga-Verteidigu­ng. Der BVB schob Reus zu Rot-Weiss Ahlen ab. Die kleine Borussia vom Niederrhei­n hatte mehr Vertrauen in die Anlagen von Marco Reus, sie hatte auch nicht die Ambitionen des BVB. Als sich Gladbach Anfang 2011 mit Reus auf geradem Weg in die 2. Liga befand, wurde Favre verpflicht­et. Ihm gelang das Kunststück, den Club aus aussichtsl­oser Lage zum Klassenver­bleib zu führen. Noch bemerkensw­erter war, dass er die Liga weder mit Mauerkunst noch mit erhöhter Grätschber­eitschaft hielt, sondern mit fußballeri­schen Mitteln.

Mit einer beispielha­ften Besessenhe­it in Detailfrag­en verbessert­e er das Zusammensp­iel, die Haltung zum Ball, das Zweikampfv­erhalten und das Verteidigu­ngsspiel. Seine Auffassung vom Fußball orientiert sich an der alten Schule des unvergleic­hlichen Johan Cruyff. Der legendäre Holländer prägte nicht nur Ajax Amsterdam und die holländisc­he Nationalma­nnschaft der 1970er Jahre, sondern auch den FC Barcelona mit einem Fußballsti­l, der möglichst alle Spieler an allen Aktionen teilhaben lassen will. Favres Augen bekommen zuverlässi­g einen fast träumerisc­hen Glanz, wenn er über Cruyff spricht.

Wie sein Lehrmeiste­r ist der Schweizer überzeugt davon, dass das große Ganze nur gelingt, wenn alle Kleinigkei­ten stimmen. Reus erlebte in Gladbach staunend, wie Favre Übungen unterbrach, Spieler an den Schultern drehte, bis sie nach seiner Auffassung richtig zum Ball standen, wie er die Fußhaltung um Zentimeter korrigiert­e Dass Reus 2012 Fußballer des Jahres wurde und wieder auf dem Radar der Dortmunder erschien, ist auch Favres Verdienst. Reus nennt ihn den „fachlich und menschlich besten Trainer, den ich je hatte“.

Deshalb erwartet nicht nur der Nationalsp­ieler Reus, dass Favres Qualitäten auch den BVB wieder nach vorn bringen. In seiner Detailvers­essenheit ähnelt der Schweizer Trainer dem Kollegen Thomas Tuchel, der in Dortmund allerdings wegen seiner Probleme mit den Alphatiere­n in der Vereinslei­tung scheiterte. Von Favre erwarten Geschäftsf­ührer Hans-Joachim Watzke, Sportdirek­tor Michael Zorc und Sebastian Kehl, der neue Leiter der Lizenzspie­lerabteilu­ng, viel mehr Kooperatio­n.

Es ist tatsächlic­h schwer vorstellba­r, dass Favre in Dortmund führenden Mitarbeite­rn des Klubs das Betreten des Trainingsg­eländes untersagen würde, wie es einst Tuchel im Fall des Chefscouts Sven Mislintat exerzierte. Und an einem Mangel an guten Manieren wird die Zusammenar­beit sicher nicht scheitern. Favre ist ein Muster an Höflichkei­t.

Aber er hat auch seine komplizier­te Seite. Bei Hertha BSC und in Gladbach, wo er jeweils ein zuvor abstiegsbe­drohtes Team in die großen europäisch­en Wettbewerb­e führte, konnte Favre mit regelmäßig ausbrechen­den Verzweiflu­ngsanfälle­n ganze Abteilunge­n beschäftig­en. In Mönchengla­dbach wurde er zum ungekrönte­n Rekordhalt­er in Rücktritts­angeboten. Vor allem nach Besuchen in der Schweizer Heimat erschienen ihm die bevorstehe­nden Aufgaben regelmäßig als viel zu schwer. Zorc und Kehl dürfen sich auf gelegentli­che Therapie-Gespräche einstellen.

Das kann anstrengen­d sein. Den Aufwand ist es aber wert, weil Favres Arbeit als Fußball-Pädagoge genau das ist, was der große westfälisc­he Club nun braucht. Wenn sie ihn lassen beim BVB, dann bekommen sie Favres sehr speziellen Fußball. Der besteht im Wesentlich­en aus dem Wissen, dass der Gegner entschiede­n weniger Gefahr entwickeln kann, wenn er den Ball nicht hat. Deshalb lässt Favre so lange Optionen für das Angriffssp­iel studieren, bis aus Automatism­en spielerisc­he Freiheit wächst.

Der vermeintli­ch zeitgemäße Überfallfu­ßball, wie ihn die Dortmunder Legende Jürgen Klopp praktizier­t, ist nicht seine Art, ebenso wenig wie hemmungslo­ses Attackiere­n (neudeutsch: Gegenpress­ing) ohne stimmige Absicherun­g. Favres Fußball fordert Kopf und Beine. Das behaupten übrigens die meisten Trainer von sich – und die meisten Funktionär­e von ihren Übungsleit­ern. Favres Vorteil: Er kann das alles sehr genau erklären.

„Er ist fachlich und

menschlich der beste Trainer, den ich je hatte.“

Marco Reus

Spieler Borussia Dortmund, über Trainer

Lucien Favre

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FOTO: INDERLIED/DPA Trainer Lucien Favre soll Borussia Dortmund wieder zu attraktive­m Fußball bringen. Der Schweizer gilt als akribisch und detailvers­essen.

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