Saarbruecker Zeitung

Finanzkris­e in der Türkei weitet sich aus

Die Lira verfällt rasant, die Beziehung zu Washington ist schwer gestört, und die Präsidente­n sind auf Konfrontat­ionskurs: Wo endet die Türkei-Krise?

- VON CHRISTINE-FELICE RÖHRS UND ERGIN HAVA

Je tiefer die Türkei in die Währungskr­ise schlittert, desto drastische­r wird die Rhetorik von Präsident Erdogan gegen die USA. Inzwischen besteht die berechtigt­e Sorge, dass die Krise zwischen Ankara und Washington auch die internatio­nalen Finanzmärk­te erfasst.

ISTANBUL (dpa) Der Staatspräs­ident provoziert und provoziert. Sieben Reden hat Recep Tayyip Erdogan zwischen Freitagmor­gen und Montagnach­mittag gehalten und in jeder wurde der Ton gegen die USA schärfer. In der ersten ging es noch um „Kampagnen“gegen die Türkei. In der vierten drohte er schon, die Hände abzuhacken von jenen, die diesen „Wirtschaft­skrieg“gegen die Türkei führten. In der letzten Rede am Montagnach­mittag nannte er die USA den „Kraftmeier des globalen System“und sagte, die Türkei sei zu einem Krieg bereit. Diese Rede hielt er vor Botschafte­rn aus aller Welt. Fernsehbil­der zeigten ein Meer steinerner Gesichter.

Die USA und die Türkei streiten sich um zwei Geistliche, und die Welt macht sich zunehmend Sorgen. Die Türkei will, dass die USA den dort lebenden türkischen Prediger Fethullah Gülen ausliefern. Die Regierung wirft Gülen vor, hinter dem Putschvers­uch von 2016 zu stecken. Die USA fordern wiederum die Freilassun­g des US-Pastors Andrew Brunson, den die Türkei wegen Terrorvorw­ürfen festhält. Nach wochenlang­er Eskalation der Sache twitterte Trump dann am Freitag, dass er einige Strafzölle gegen die Türkei verdoppeln werde. Die Lira, die seit Monaten aus vielen Gründen an Wert verliert, sackte daraufhin in mehreren Wellen auf historisch­e Tiefstände ab.

Der Streit von zwei Regierunge­n ist zu einem Streit zwischen ihren Präsidente­n geworden – beide machtgewoh­nt, beide rhetorisch gerne auf der krassen Seite, beide mit sturen Köpfen und einem leicht entzündlic­hen Temperamen­t ausgestatt­et. Diese doppelte Reizbarkei­t macht es schwer zu sagen, wo die Krise hinführt. So wie sich allerdings Erdogans sieben Reden in zweieinhal­b Tagen angehört haben, könnte man meinen, er wolle, dass beides zerbricht: die türkische Wirtschaft an der wachsenden Verunsiche­rung der Finanzmärk­te, reflektier­t im Verfall der Lira auf immer neue Tiefstände. Und das Verhältnis zu den USA, immerhin wichtiger Nato-Partner.

Der türkische Wirtschaft­sexperte Mustafa Sonmez sagt, eine Erklärung für Erdogans Wüten gegen die USA sei, dass er verbergen wolle, wie schlecht es der heimischen Wirtschaft gehe. Im Land hat die Inflation mehr als 15 Prozent erreicht. Es sei ein Problem, das Erdogan selber geschaffen habe – aber nun habe er die Chance, es als Resultat eines Angriffs von außen dazustelle­n.

Ilter Turan, Professor für internatio­nale Beziehunge­n an der Bilgi-Universitä­t in Istanbul, verweist auf Erdogans Weltsicht. Man könne sie Dritt-Welt-Denken nennen. Erdogan sei überzeugt, dass eine alternativ­e Weltordnun­g gebraucht würde, um die dominanten Weltmächte unter Kontrolle zu bringen. Die USA gewännen aus seiner Sicht zu viel Macht, weil der Dollar als Welthandel­swährung genutzt würde.

Außerdem stünden in der Türkei im Frühjahr lokale Wahlen an, und Erdogan sei besorgt über die Auswirkung­en der Lira-Krise auf seine Basis. Die Regierung sei sich wohl bewusst, dass es zu spät sei, die Krise abzuwenden. „Deshalb hat Erdogan keine andere Wahl als seine Wähler zu mobilisier­en für etwas, das er nationale Solidaritä­t gegen einen Wirtschaft­skrieg nennt.“Die Sorge vor einer Erosion seiner Unterstütz­er ist nicht unbegründe­t. Erdogan hat die Präsidents­chaftswahl­en im Juni mit nur 52,6 Prozent gewonnen. Das Land ist tief gespalten. Schon im Wahlkampf war Wirtschaft für die Menschen das wichtigste Thema. Die Zwiebelpre­ise sind dieses Jahr teils um über 200 Prozent gestiegen.

Nun würde Erdogan die Verschärfu­ng der Krise nicht unmittelba­r gefährlich werden – er hat sich mit dem neuen Präsidials­ystem, das ihm viel Macht einräumt, fest in den Sattel gesetzt. Aber mehr Widerspruc­h und Proteste gegen ihn könnte nach den Erfahrunge­n der vergangene­n Jahre – von Gezi-Protesten bis zum Putschvers­uch – zu weiteren Freiheitsb­eschneidun­gen führen. Am Montag gab es Anzeichen: Die Nachrichte­nagentur Anadolu und andere Medien berichtete­n, dass Staatsanwä­lte und Ermittler nun gegen Menschen vorgingen, die in sozialen Medien „falsche Berichte“und „Spekulatio­nen“über die Lage verbreitet­en.

Erdogan drohte, die Hände abzuhacken von

jenen, die diesen „Wirtschaft­skrieg“gegen die Türkei führten.

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FOTO: PRESIDENCY PRESS SERVICE/DPA Will Erdogan mit seiner krassen Rhetorik gegen die USA davon ablenken, wie schlecht es der heimischen Wirtschaft geht? In der Türkei hat die Inflation inwzischen mehr als 15 Prozent erreicht.

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