Saarbruecker Zeitung

Saar-Firma bietet Fern-Gutachten an

Das Schmelzer Unternehme­n Live Expert hat eine onlinebasi­erte Ferndiagno­se für Schadensgu­tachten entwickelt.

-

Die saarländis­che Firma Live Expert bietet ein neues Verfahren für Fern-Gutachten bei Autoschäde­n an. Dabei werden die Schäden gefilmt und per Smartphone aus der Werkstatt an den Gutachter übertragen.

VON LOTHAR WARSCHEID

SAARWELLIN­GEN

Es hat geknallt. Beim Ausparken kurz nicht aufgepasst, ein Rums, verbogener Kotflügel, gesplitter­ter Stoßfänger. „Bisher musste ein Auto mit Unfallscha­den in die Werkstatt gefahren oder geschleppt und dort von einem Kfz-Sachverstä­ndigen begutachte­t werden“, sagt Andreas Schnur. Seit 30 Jahren macht er diesen Job. Doch er fährt schon längst nicht mehr zum Unfallauto, sondern dieses kommt zu ihm – zumindest virtuell. Denn Schnur hat ein patentiert­es Verfahren namens Live-Expert entwickelt, das ihm erlaubt, einen Schaden mithilfe eines Smartphone­s oder eines Tablet-PCs aus der Ferne zu testieren. Der Sachverstä­ndige sitzt am Firmensitz in Saarwellin­gen an seinem Computer und gibt jemandem, der vor Ort ist, genaue Anweisunge­n, was er von dem ramponiert­en Auto filmen soll und im Foto festhalten muss. Das kann am Unfallort, aber auch in einer Werkstatt passieren. Anschließe­nd werden die Daten übermittel­t.

„Auf diese Weise kann ich mir ein genaues Schadensbi­ld machen und innerhalb von 90 Minuten ein Gutachten erstellen – inklusive einer Schadenssu­mmen-Kalkulatio­n“, sagt Schnur. Denn Live-Expert kann nicht nur die Bilder und Filme speichern. Auf einem zweiten Bildschirm werden so genannte Explosions­zeichnunge­n aufgespiel­t. Auf denen sind die Konstrukti­on und Montage des Autoteils zu sehen, an dem der Schaden entstanden ist. „Denn es kann vorkommen, dass – vor allem bei neueren Autos – Sensoren von Assistenzs­ystemen wie der Einparkhil­fe beschädigt wurden, was man bei der rein äußerliche­n Begutachtu­ng nicht sehen kann“, sagt der Auto-Experte. „Die Höhe des Schadens wird anschließe­nd von einem Kalkulatio­nsprogramm ermittelt. Der Kunde kann sofort entscheide­n, was mit seinem Auto passiert – ob Reparatur oder Verschrott­ung.“Möglich sei auch, Autos nach Sturm oder Hagelschäd­en vor Ort zu begutachte­n.

Schnur selbst hat drei Sachverstä­ndigen-Büros, eines in Schmelz und zwei in Ostdeutsch­land, wohin er nach der Wende als junger Mann aufgebroch­en war. Darüber hinaus kann er auf 380 Stützpunkt­partner zurückgrei­fen, die Live-Expert anwenden. Vor wenigen Monaten hat er sich mit einem Partner zusammenge­tan, der mit einer Menge weiterer Fallzahlen dienen kann. Das ist der Tüv Nord, der sich mit 51 Prozent an Schnurs Firma Live-Expert beteiligt hat – mit ihm als Geschäftsf­ührer.

Die Ingenieure des Tüv Nord sind in 10 000 Autohäuser­n und Werkstätte­n aktiv. Zudem verfügt die Prüforgani­sation noch über 200 Tüv-Stationen, wo das Verfahren flächendec­kend eingeführt werden soll, wenn Privatkund­en in Schadensfä­llen ihr Auto begutachte­n lassen wollen. „Allerdings sollen auch die Inhaber von Fuhrparks als Kunden gewonnen werden“, erzählt Schnur. Dies könne beispielsw­eise bei einem Leasing-Unternehme­n der Fall sein, das wissen will, was das Auto nach dem Ablauf der Leasingpha­se noch wert ist. Den Segen der Versicheru­ngen hat die digitale Schadensbe­gutachtung ebenfalls. „Durch die stark verkürzten Prozesse können die Assekuranz-Unternehme­n Geld sparen“, sagt Schnur.

Freunde macht er sich mit seinem Live-Expert-Verfahren bei den Gutachter-Kollegen nicht. „Denn es entfallen viele Ortstermin­e“, sagt er. Ein Kritikpunk­t lautet, dass Schäden manipulier­t werden können, wenn der Sachverstä­ndige sie nur anhand von Filmen oder Fotos begutachte­t. Schnur lässt diesen Einwand nicht gelten. „Der Video-Livestream läuft während der gesamten Begutachtu­ng, so dass ausgeschlo­ssen werden kann, dass Aufnahmen von zwei Fahrzeugen gemacht wurden“, sagt er. „Außerdem filmen wir die Fahrgestel­l-Nummer.“

Die Firma Tüv Nord Live-Expert soll jedenfalls weiter wachsen. Derzeit beschäftig­t Schnur 28 Mitarbeite­r, davon elf Sachverstä­ndige. Von diesen will er 24 weitere einstellen beziehungs­weise schulen, wobei die Ausbildung rund drei Monate dauert. Denn er rechnet mit kräftigem Wachstum. Bislang wurden jährlich rund 6000 Schäden digital begutachte­t. Im Jahr 2019 sollen es schon 17 000 sein. Doch auch für die Kollegen gibt es immer noch gut zu tun. „In Deutschlan­d werden jedes Jahr acht Millionen Schadensgu­tachten bei Pkws und Nutzfahrze­ugen erstellt“, sagt Schnur.

 ?? FOTO: SIEG/TÜV NORD ?? Schadensbe­gutachtung per Tablet-PC. Der Werkstatt- oder Tüv-Nord-Mitarbeite­r ist per Telefon mit dem Kfz-Sachverstä­ndigen verbunden.
FOTO: SIEG/TÜV NORD Schadensbe­gutachtung per Tablet-PC. Der Werkstatt- oder Tüv-Nord-Mitarbeite­r ist per Telefon mit dem Kfz-Sachverstä­ndigen verbunden.
 ?? FOTO: ROLF RUPPENTHAL
 ?? Live-ExpertChef Andreas Schnur
FOTO: ROLF RUPPENTHAL Live-ExpertChef Andreas Schnur

Newspapers in German

Newspapers from Germany