Saarbruecker Zeitung

„Es war Mord an meiner Seele“

US-Ermittler bringen Licht in einen riesigen Missbrauch­sskandal: Rund 300 Priester vergingen sich in den letzten 70 Jahren systematis­ch an Kindern.

- Produktion dieser Seite: Gerrit Dauelsberg Iris Neu-Michalik

VON FRANK HERRMANN

WASHINGTON

Mehr als 300 katholisch­e Priester in Pennsylvan­ia haben im Laufe der vergangene­n 70 Jahre systematis­ch Kinder missbrauch­t, insgesamt über 1000 Heranwachs­ende. 884 Seiten lang ist ein von der Justiz des Bundesstaa­ts vorgestell­ter Bericht, in dem das Kapitel in allen schockiere­nden Details unter die Lupe genommen wird. Es handelt sich um die bisher umfassends­te Aufarbeitu­ng sexuellen Kindesmiss­brauchs in den Vereinigte­n Staaten.

18 Monate haben Ermittler gebraucht, um im Auftrag eines Geschworen­engremiums Licht ins Dunkel zu bringen. Dutzende Zeugen wurden vernommen, rund eine halbe Million Seiten kirchenint­erner Dokumente hat man gesichtet. Das Ergebnis ist eine Dokumentat­ion, wie es sie in dieser Gründlichk­eit in den USA noch nicht gegeben hat.

In einem Fall wurde ein Mädchen nach einer Mandeloper­ation, noch im Krankenhau­s, von einem Pfarrer vergewalti­gt. In einem zweiten verging sich ein Priester an einem Siebenjähr­igen, den er hinterher auffordert­e, ihm, seinem Seelsorger, seine Sünden zu beichten. In einem dritten musste sich ein Junge ausziehen und die Pose des Gekreuzigt­en einnehmen, während ihn seine Peiniger, es waren mehrere, nacheinand­er mit einer Polaroid-Kamera fotografie­rten. Als Nächstes legten sie ihm ein Goldkettch­en um den Hals, womit er markiert war als einer, mit dem man Sex haben konnte. Schließlic­h der Reverend, der mit einer Minderjähr­igen schlief und später die Abtreibung organisier­te. Auch er durfte bleiben.

Die Aufarbeitu­ng solcher Skandale beschäftig­t Amerikas katholisch­e Kirche schon seit 2002, dem Jahr, in dem Journalist­en eine Missbrauch­sserie in Boston aufdeckten – die bahnbreche­nde Recherche später im Oscar-gekrönten Streifen „Spotlight“verfilmt. Wie in Boston haben Bischöfe auch in Pennsylvan­ia versucht, das Geschehene unter den Teppich zu kehren. Man wollte Negativsch­lagzeilen ebenso vermeiden wie Klagen auf Schadenser­satz. Folglich wurden pädophile Geistliche, gegen die sich die Verdachtsm­omente gehäuft hatten, bisweilen in sogenannte Behandlung­szentren gebracht und dann einer anderen Gemeinde zugeteilt.

„Sagt den Gemeindemi­tgliedern, er sei wegen Krankheit beurlaubt oder habe einen Nervenzusa­mmenbruch erlitten. Oder sagt am besten nichts“, zitieren die Autoren des Berichts aus einer internen Anweisung. Es habe ein ausgeklüge­ltes Drehbuch zur Vertuschun­g der Wahrheit gegeben, resümiert Josh Shapiro, der Generalsta­atsanwalt Pennsylvan­ias. Man habe die Institutio­n Kirche um jeden Preis schützen wollen. „Priester haben kleine Jungen und Mädchen vergewalti­gt, und die Männer Gottes, die die Verantwort­ung trugen, haben nicht nur nichts getan, sie haben es auch noch gedeckt. Jahrzehnte­lang“, schreibt die Runde der Geschworen­en in ihrem Report.

Da ist der Kardinal Donald Wuerl, heute Erzbischof der Hauptstadt­diözese Washington, von 1988 bis 2006 Bischof in Pittsburgh, der einstigen Stahlmetro­pole. Ein typisches Beispiel, auch in seiner Widersprüc­hlichkeit. Manchmal sorgte er dafür, dass pädophile Pfarrer ihre Ämter verloren, manchmal begünstigt­e er das Kartell des Schweigens.

Viele Fälle liegen schon lange zurück, viele der Opfer haben Jahrzehnte gebraucht, bevor sie den Mut fanden, zu reden. Mehr als ein Drittel der Beschuldig­ten ist mittlerwei­le gestorben. Gegen andere kann keine Anklage erhoben werden, da ihre Taten verjährt sind. Doch es mangelt nicht an Stimmen, die auf eine Gesetzesän­derung drängen. Das mit der Verjährung sei falsch, protestier­t James van Sickle, 55 Jahre alt, 1981 missbrauch­t von einem Pfarrer. „Es war Mord an meiner Seele“, sagt er. Und Mord verjähre bekanntlic­h nicht.

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