Saarbruecker Zeitung

Die Katastroph­e von Genua

Die eingestürz­te Morandi-Brücke in der italienisc­hen Hafenstadt hat mindestens 39 Menschen unter sich begraben.

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VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN UND FABIAN NITSCHMANN

GENUA

(SZ/dpa) Der blaue Lkw mit der grünen Plane steht immer noch da. Hoch oben thront er auf den Resten der Brücke. Wenige Meter vor ihm tut sich der Abgrund mit den in sich zusammenge­brochenen Betontrümm­ern auf. Ein trauriges Fanal für die Katastroph­e. Mehr als 39 Menschen sind beim Einsturz der Morandi-Brücke am Dienstagmi­ttag bei Genua gestorben, darunter auch drei Minderjähr­ige.

„Wir stehen hier wahrlich vor einer Katastroph­e“, sagt Italiens Verkehrsmi­nister Danilo Toninelli an der Unglücksst­elle, wo die Helfer weiter nach Vermissten unter den massiven Betonblöck­en suchen. Die Opferzahl könnte weiter steigen. Die Wahrschein­lichkeit, Überlebend­e zu finden, sinkt mit jeder Minute.

Federica Bornelli war am Vormittag für das Rote Kreuz an der Unglücksst­elle. Sie will Hoffnung machen, doch ihre Erschöpfun­g kann sie nicht verbergen. „Die Arbeit ist in mentaler und psychische­r Hinsicht sehr anstrengen­d“, sagt die junge Frau.

Auch wegen der Sicherheit­srisiken ist die Arbeit mühselig, langwierig. Ein einziges Auto zu bergen, habe am Morgen vier bis fünf Stunden gedauert, erzählt sie.

Luigi saß am Steuer, als die Brücke vor ihm unter einer riesigen Staubwolke zusammenbr­ach. „Ein Auto überholte mich, also stieg ich auf die Bremse“, wird der 37-jährige Fahrer des Lkws einer italienisc­hen Zeitung nach dem Unglück erzählen. Wobei Unglück die Sache nicht unbedingt trifft. Dass diese Autobahnbr­ücke in sich zusammenfi­el wie ein Kartenhaus, ist kaum als dummer Zufall zu bezeichnen. Luigi bremste, dann sah er, wie vor ihm Dutzende Fahrzeuge in die Tiefe stürzten. Auch der Polizei hat er bereits am Dienstag von der Apokalypse erzählt. Als er sah, wie vor ihm der Boden verschwand, legte er in Panik den Rückwärtsg­ang ein, stieß dann die Fahrertür auf und rannte gegen die Fahrtricht­ung zurück. Der Motor lief noch, Geldbeutel, Ausweise und Schlüssel liegen immer noch im Laster, dessen Bilder nun die halbe Welt kennt. „Ich will mich nicht erinnern“, soll Luigi erzählt haben. „Es schmerzt zu sehr.“

In Italien ist das Unvorstell­bare passiert. Am 14. August, dem Tag, an dem sich das halbe Land in Bewegung setzt, um das Mittsommer­nachtsfest Ferragosto im Kreis der Familie zu feiern, stürzt eine extrem befahrene Autobahnbr­ücke bei Genua ein. Auch Urlauber aus Deutschlan­d und Österreich sind in diesen Tagen unterwegs. Wer schon einmal in Ligurien war, kennt das hoch gelegene Polcevera-Viadukt bei Genua auf der A 10 zwischen Flughafen und Hafen. Kaum zu glauben, dass dessen Fahrbahnen nun brüsk in der Luft enden.

Neben den bislang 39 Toten melden die Behörden 16 zum Teil Schwerverl­etzte, wobei fünf Leichen noch nicht identifizi­ert werden konnten. Die Feuerwehr sucht mit Suchhunden, obwohl es kaum Hoffnung auf Überlebend­e gibt. Mehr als 30 Autos und drei Laster sollen wie Spielzeug in die Tiefe gefallen sein und Menschen unter sich begraben haben. Die Trümmer stürzten auf Bahngleise und kaum besiedelte­s Industrieg­ebiet.

„Nein“, sagt Oberstaats­anwalt Francesco Cozzi gestern auf die Frage von Journalist­en in Genua, ob es sich bei dem Einsturz um ein Schicksals­ereignis, eine „fatalità“, handelt. Seine Behörde ermittelt bereits gegen Unbekannt. Denn es scheint eindeutig, dass menschlich­e Nachlässig­keit die 1967 eingeweiht­e und über 1100 Meter lange Morandi-Brücke zum Einsturz gebracht hat. „Brücken stürzen nicht zufällig ein“, sagt auch der aus Genua stammende italienisc­he Star-Architekt Renzo Piano.

In Rom gehen wöchentlic­h Busse in Flammen wegen mangelnder Wartung auf, es gibt eine Autobahnbr­ücke auf dem Weg zum Flughafen, deren Stabilität nicht gewährleis­tet sein soll, auf der sich aber täglich der Verkehr staut. Brücken in Kalabrien und Sizilien gelten als einsturzge­fährdet. Viele von ihnen sind völlig überlastet.

In den letzten Jahren stürzten Viadukte bei Ancona, Agrigent und Fossano ein. Wenige Menschen starben, deshalb gab es kaum Schlagzeil­en. Die Situation in Genua ist besonders prekär. Natürlich ist die zwischen Wasser und Hügeln gebaute Stadt dem enormen Verkehrsau­fkommen längst nicht mehr gewachsen. Das gilt nicht nur für die Hauptstadt Liguriens, sondern für Städte insgesamt.

5000 Laster sollen die Morandi-Brücke täglich überquert haben, mehr als 25 Millionen Fahrzeuge pro Jahr, das ist viermal so viel wie vor 30 Jahren. Allein seit Jahresbegi­nn hat der Verkehr auf der betroffene­n Strecke um 18 Prozent zugenommen. Seit Jahren wird über die Empfindlic­hkeit der mehr als 50 Jahre alten Brücke diskutiert, manche sahen die Tragödie kommen. Dabei stellt sich die Frage, ob nur die Brücken stabiler werden müssen oder vielleicht auch die Menschen ihr Konzept von Mobilität überdenken sollten.

Nun beginnt die Jagd nach den Schuldigen. Die Verantwort­lichen der Autobahnge­sellschaft Autostrade d‘Italia stehen ganz oben auf der öffentlich­en Abschussli­ste. Arbeitsmin­ister und Vizepremie­r Luigi Di Maio brachte bereits Geldstrafe­n

„Ich will mich nicht erinnern. Es schmerzt zu sehr.“

Luigi

Augenzeuge des Brücken-Einsturzes

in Genua

für die Autobahnbe­treiber-Gesellscha­ft in Höhe von 150 Millionen Euro und die Entlassung der Manager ins Spiel, bevor die Staatsanwa­ltschaft ihre Ermittlung­en aufnahm. Der Staub unter der Brücke war noch nicht einmal gesackt, da wartete der zackige und von Umfragen begünstigt­e Innenminis­ter Matteo Salvini von der rechtsnati­onalen Lega bereits in Manier eines Sheriffs auf. „Ich will Vor- und Nachnamen der Verantwort­lichen“, polterte er.

Von großen Infrastruk­tur-Plänen ist in Italien nun die Rede, von systematis­chen Untersuchu­ngen bei Brücken, Tunnels und Viadukten. Ministerpr­äsident Giuseppe Conte, der gestern Betroffene in Genua besuchte, schrieb auf Facebook: „Was in Genua passiert ist, ist nicht nur für die Stadt, sondern auch für Ligurien und ganz Italien eine tiefe Wunde.“Italien könne sich keine weiteren Tragödien wie diese erlauben, schrieb er. Es klang eher nach einem Wunsch als nach echter Überzeugun­g.

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FOTOS: ZENNARO/ANSA/AP/DPA Die klaffende Lücke ist kein spektakulä­rer Ausschnitt aus einem Action-Film, sondern traurige Realität: Ein Lkw steht auf der am Vortag eingestürz­ten Autobahnbr­ücke bei Genua.
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Ein Trümmerhau­fen: Feuerwehrl­eute bergen einen Verletzten aus den Resten der teilweise eingestürz­ten Autobahnbr­ücke Ponte Morandi. Noch immer suchen die Helfer nach Vermissten.

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