Politisches Beben nach Urteil über Islamist Sami A.
Sehr viele Komplikationen oder Infektionen im Krankenhaus wären vermeidbar, sagen Experten – und fordern Maßnahmen für mehr Patientenschutz.
DÜSSELDORF (dpa) In der Affäre um den nach Tunesien abgeschobenen mutmaßlichen Bin-Laden-Leibwächter Sami A. hat NRW-Integrationsminister Joachim Stamp (FDP) Rücktrittsforderungen zurückgewiesen. Das NRW-Oberverwaltungsgericht hatte die Abschiebung als rechtswidrig bewertet und den Behörden vorgeworfen, Informationen zurückgehalten zu haben. Stamp sagte, Sami A. sei eine „tickende Zeitbombe“.
VON STEFAN VETTER
BERLIN
Trotz einer vergleichsweise vorbildlichen Gesundheitsversorgung kommt es in Deutschland immer noch zu einer Vielzahl vermeidbarer Behandlungsfehler. Der Verband der Ersatzkassen (vdek) und das Aktionsbündnis Patientensicherheit legten dazu gestern ein „Weißbuch“vor, das den Handlungsbedarf beschreibt und Lösungen vorschlägt.
Glaubt man den offiziellen Daten der gesetzlichen Krankenkassen sowie der Bundesärztekammer, dann ist das Problem eher marginal. Insgesamt 5550 Behandlungsfehler in Kliniken und Praxen wurden demnach im vergangenen Jahr registriert. 218 Fälle endeten für die Patienten tödlich. Angesichts von rund 20 Millionen Krankenhausbehandlungen und der noch um ein Vielfaches höheren Zahl an ambulanten Untersuchungen pro Jahr liegt der Anteil der Komplikationen also im Promille-Bereich.
Das Aktionsbündnis Patientensicherheit und der vdek legen ihrem „Weißbuch“allerdings deutlich dramatischere Daten zugrunde: Demnach kommt es bei fünf bis zehn Prozent aller klinischen Eingriffe zu „unerwünschten Ereignissen“, die von Druckgeschwüren über Fehldiagnosen bis hin zu schweren Infektionen reichen. Das wären bis zu zwei Millionen Fälle. Und davon seien etwa 800 000 vermeidbar, erläuterte der Gesundheitsökonom und Autor des Berichts, Matthias Schrapp. Für seinen Befund stützt er sich nach eigenen Angaben auf „Hochrechnungen“, die aus einschlägigen wissenschaftlicher Studien resultieren. Schrapp geht so auch von jährlich etwa 20 000 vermeidbaren Todesfällen in Kliniken aus. Die Diskrepanz zu anderen Statistiken führte der Mediziner darauf zurück, dass nur etwa drei Prozent der Betroffenen von Behandlungen mit Komplikationen diese auch tatsächlich bei offiziellen Stellen klären ließen.
Besonders groß ist der Handlungsbedarf offenbar immer noch im Hygienebereich. Trotz der schon 2008 initiierten „Aktion Saubere Hände“erkranken in Deutschland pro Jahr 400 000 Patienten an einer Klinikinfektion. Ein Drittel aller Fälle geht auf mangelnde Sauberkeit zurück. Vdek-Chefin Ulrike Elsner machte dafür auch das Fehlen einer bundeseinheitlichen Hygiene-Richtlinie für Krankenhäuser verantwortlich. „Patienten können aber auch selbst zur Infektionsprävention beitragen, indem sie den Arzt oder die Pflegekraft ansprechen, wenn sie zum Beispiel Mängel bei der Händedesinfizierung bemerken“, sagte Elsner.
Zu den weiteren Erfordernissen für einen besseren Patientenschutz zählen aus Sicht der Experten Fehlermeldesysteme, die nicht nur innerhalb der Kliniken wirken, wie das bereits praktiziert wird, sondern einrichtungsübergreifend. Auf diese Weise könne etwa eine Wiederholung von Fehlern vermieden werden. Darüber hinaus fordern sie ein Implantat-Register für Hochrisiko-Medizinprodukte wie Herzklappen oder Herzschrittmacher. Außerdem müssten Kliniken, Praxen und Pflegedienste zur Einsetzung von Patientenverantwortlichen verpflichtet werden.
Das Thema Patientensicherheit wird in Deutschland nach Einschätzung von Schrappe oft immer noch als Kosten- statt als Erfolgsfaktor gesehen. Gerade eine Vernachlässigung des Patientenschutzes verursache aber enorme Schäden. Auf der Basis einer „sehr konservativen Schätzung“von 5000 Euro pro unerwünschtem Ereignis müsse man mit zusätzlichen, vermeidbaren Kosten zwischen zwei und vier Milliarden Euro rechnen, heißt es dazu im „Weißbuch“.