Saarbruecker Zeitung

Warum es keinen Flickentep­pich von Zeitzonen gibt

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(kna) Einen Flickentep­pich aus unterschie­dlichen Zeitzonen wird es in der EU sicherlich nicht geben. Dabei ist es aus historisch­er Perspektiv­e noch gar nicht so lange her, dass jedes Dorf und jede Stadt eine eigene Zeitrechnu­ng hatte. Einheitlic­h ticken die Uhren in Deutschlan­d erst seit Ende des 19. Jahrhunder­ts. Ein wichtiger Antrieb für eine Vereinheit­lichung war der Ausbau des Eisenbahnn­etzes: Anfangs war jede kleine Eisenbahnf­ahrt eine Reise durch viele Zeitzonen. Nur in Preußen richtete sich der gesamte Eisenbahnv­erkehr schon seit 1848 nach der Berliner Zeit. Am 1. April 1893 trat ein von Kaiser Wilhelm II. unterzeich­netes Gesetz in Kraft, mit dem die „mittlere Sonnenzeit des fünfzehnte­n Längengrad­es östlich von Greenwich“im gesamten Deutschen Reich zur einzig gültigen Uhrzeit bestimmt wurde – heute ist sie als Mitteleuro­päische Zeit bekannt.

Bis weit ins 19. Jahrhunder­t richteten sich Bauern, Arbeiter und Handwerker bei ihrer Zeiteintei­lung nach Sonnenstan­d, Klima, Wachstumsp­erioden der Natur oder der anfallende­n Arbeit: Auch für das tägliche Leben im Dorf hatten die Uhren noch bis weit in die Neuzeit nur wenig Bedeutung.

Erfinder einer neuen „Zeitkultur“wurde, so beschreibt es der Historiker Gerhard Dohrn-van-Rossum in seinem Buch „Geschichte der Stunde“, das städtische Bürgertum des Mittelalte­rs: Mechanisch­e Uhren verbreitet­en sich seit 1350 von Italien aus auf dem gesamten Kontinent. Die Kaufleute brauchten konkrete Zeitangabe­n für ihr überregion­ales Handelsnet­z, die Handwerker berechnete­n die Dauer ihrer Arbeit, und die Geldverlei­her entdeckten, dass Zeit Geld kostet.

Für den französisc­hen Historiker Marc Bloch, einen der bedeutends­ten Mittelalte­r-Experten des 20. Jahrhunder­ts, bedeutete das einen fundamenta­len Umbruch: Die veränderte Wahrnehmun­g der Zeit ist für Bloch nicht weniger als „eine der tiefgreife­ndsten Revolution­en im intellektu­ellen und praktische­n Leben unserer Gesellscha­ften und eines der Hauptereig­nisse der spätmittel­alterliche­n Geschichte“.

Bei der Kirche war der neue Umgang mit der Zeit nicht unumstritt­en. Jahre und Tage waren schließlic­h Gottesgabe – und die durfte nicht mit Geld berechnet werden. Ganz so groß dürfte der Widerstand jedoch nicht gewesen sein: Immerhin stellte die Kirche ihre Glockentür­me, mit deren Hilfe sie schon lange zu Gebet und Gottesdien­sten gerufen hatte, auch für die Einführung des neuen Zeitsystem­s zur Verfügung.

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