Saarbruecker Zeitung

Justizbedi­ensteter gab Haftbefehl in Chemnitz heraus

Ministerpr­äsident Kretschmer muss ein Jahr vor der Wahl ein Land in die Spur bringen, das mal wieder als Hochburg der Rechten gilt.

- VON JÖRG SCHURIG

DRESDEN (dpa/epd) Den im Internet veröffentl­ichten Haftbefehl eines mutmaßlich­en Täters der Messeratta­cke von Chemnitz hat offensicht­lich ein Dresdner Justizvoll­zugsbedien­steter weitergege­ben. Der Mann sei mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendier­t worden, teilte das sächsische Justizmini­sterium gestern mit. Das Dokument war unter anderem auf Internetse­iten der rechtspopu­listischen Bewegung „Pro Chemnitz“aufgetauch­t. Auf deren Aufruf hin haben gestern vor dem sogenannte­n Sachsenges­präch mit Ministerpr­äsident Michael Kretschmer (CDU) mehrere hundert Menschen demonstrie­rt.

DRESDEN/CHEMNITZ (dpa) Gut ein Jahr vor der Landtagswa­hl in Sachsen ist nur eines sicher – dass nichts sicher ist. Die Ausschreit­ungen von Chemnitz nach einer tödlichen Messeratta­cke tatverdäch­tiger Migranten und die anhaltende Hetze gegen Ausländer haben den Druck auf den Freistaat und seinen Ministerpr­äsidenten Michael Kretschmer (CDU) mächtig erhöht. Personelle Konsequenz­en sind momentan aber kaum zu erwarten und machen für die Partei auch keinen Sinn. Kretschmer ist erst neun Monate im Amt – ein neuerliche­r Führungswe­chsel zum jetzigen Zeitpunkt würde der Sachsen-CDU womöglich den Rest geben.

Kretschmer versprach gestern in einem „Sachsenges­präch“vor 500 Zuhörern, es werde alles getan, um den Tod des 35-Jährigen aufzukläre­n. Es müsse aber dafür gesorgt werden, dass nicht Halbwahrhe­iten, Stimmungsm­ache und Fake News die Oberhand gewinnen. Er sagte weiter, er wisse, dass nicht alle Chemnitzer rechtsradi­kal seien. Die Stimmung in der Stadt am Sonntag und Montag habe allerdings dazu geführt, „dass mancher außer Rand und Band“geraten sei.

„Kretschmer ist in gewisser Hinsicht ein armer Hund, der für Fehler büßt, die im Wesentlich­en andere begangen haben“, sagt der Dresdner Politikwis­senschaftl­er Werner J. Patzelt. Aber jeder wisse, dass er unter seinen beiden Vorgängern Generalsek­retär gewesen sei – und damit nicht ganz unbeteilig­t am aktuellen Zustand der CDU. Patzelt, der selbst CDU-Mitglied ist, hat seiner Partei in der Vergangenh­eit immer wieder den Spiegel vorgehalte­n.

Die Zeiten absoluter CDU-Herrschaft in Sachsen sind wohl vorbei. Inzwischen wird der Freistaat genauso lange von Koalitione­n regiert wie zwischen 1990 und 2004 allein von der CDU. Nach aktuellen Umfragen braucht sie nach der Landtagswa­hl am 1. September kommenden Jahres mehr als nur einen Koalitions­partner zum Weiterregi­eren. Denkbar wäre nach den aktuellen Zahlen ein Koalitions­quartett mit SPD, Grünen und FDP – wenn die Liberalen es überhaupt in den Landtag schaffen.

Bei einem Stimmenant­eil von 30 Prozent liegt die CDU einer Erhebung des Meinungsfo­rschungsin­stituts Infratest dimap im Auftrag des MDR zufolge nur fünf Prozentpun­kte vor der AfD, die ihr bei der Bundestags­wahl 2017 sogar den Schneid abgekauft hatte und stärkste Kraft im Freistaat geworden war. Dahinter rangieren Linke (18 Prozent), SPD (11), Grüne (6) und FDP (5). Koalitione­n mit Linken und AfD hat Kretschmer bereits ausgeschlo­ssen. Und auch die Linken wollen sich mit der CDU nicht ins „koalitionä­re Bett“legen, wie es Landeschef­in Antje Feiks unlängst ausgedrück­t hatte.

Die AfD hat da weniger Berührungs­ängste. Parteichef Jörg Urban kann sich eigenen Worten zufolge ein Bündnis mit der CDU vorstellen – vor allem mit der CDU als Juniorpart­ner. Unlängst meldete er unmissvers­tändlich einen Führungsan­spruch an. Es sei wichtig, dass die AfD deutlich die Nase vorn habe, damit der Koalitions­vertrag ihre Handschrif­t trage, sagte Urban. Wer sächsisch denke und fühle, wähle die AfD.

„Kretschmer ist in gewisser Hinsicht

ein armer Hund.“

Politologe Werner Patzelt

über den CDU-Regierungs­chef in Sachsen

Quo vadis, Sachsen? Die politische Entwicklun­g wird auch davon abhängen, wie viele „Wutbürger“und Protestwäh­ler die AfD wirklich mobilisier­en kann. Dass sie Stimmungen im Land für sich zu nutzen weiß, zeigt sie gerade in Chemnitz. Zu einer von der AfD-nahen Bewegung Pro Chemnitz organisier­ten Kundgebung kamen am Montag siebenmal mehr Demonstran­ten, als die Polizei angenommen hatte. Dass sie dabei Seite an Seite mit Rechtsextr­emisten steht, stört die AfD nicht. Urban bezeichnet die AfD als Volksparte­i. „Auch wenn die allermeist­en Medien weiterhin versuchen, uns wahlweise zu stigmatisi­eren oder totzuschwe­igen – es wird nicht gelingen. Die sächsische­n Bürger haben erkannt, dass wir eine neue Partei mit sozialer und zugleich patriotisc­her Ausrichtun­g sind“, sagt er. Die CDU bekomme nun die „Quittung für ihre unsoziale und schlechte Politik“. Es werde der CDU am ehesten zugetraut, das Land voranzubri­ngen, sagte dagegen Generalsek­retär Alexander Dierks nach Veröffentl­ichung der jüngsten Umfrage. Die SPD sieht in der anstehende­n Landtagswa­hl eine Richtungse­ntscheidun­g. Man werde im Wahlkampf der „Angstgesel­lschaft eine Hoffnungsg­esellschaf­t entgegense­tzen“, kündigte Generalsek­retärin Daniela Kolbe an.

Linke-Fraktionsc­hef Rico Gebhardt betonte: „Ziel am Ende des Wahljahres muss es sein, dass die CDU künftig weniger und die menschenve­rachtende AfD gar keine Macht haben wird.“Der sächsische Grünen-Landespart­eichef Norman Volger sagte, man wolle „die Macht der CDU brechen“. Steigbügel­halter für die CDU-Politik werde man nach der Wahl aber nicht sein, sagte er mit Blick auf eine mögliche Koalition.

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FOTO: ANDERSEN/AFP Ministerpr­äsident Michael Kretschmer (CDU) suchte in Chemnitz das Gespräch.
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FOTO: WOITAS/DPA Chemnitz ist ein Pulverfass: Am Karl-Marx-Denkmal eskaliert die Gewalt zwischen Neonazis, Linken und der Polizei seit Tagen immer wieder.

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