Saarbruecker Zeitung

Venezuela – von der Krise in die Katastroph­e

Die Venezolane­r fliehen in Massen vor Hunger und Unterdrück­ung.

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CÚCUTA (dpa) Es wirkt wie ein Exodus: Tausende Venezolane­r kehren ihrer Heimat jeden Tag den Rücken. Wer Geld hat, kauft sich direkt an der Internatio­nalen Brücke Simón Bolívar im grenznahen Cúcuta in Kolumbien ein Busticket in die Hauptstadt Bogotá oder gleich bis zur Grenze nach Ecuador. Wer nichts hat, muss laufen. Aber alle lassen Hunger und Unterdrück­ung hinter sich – und hoffen auf ein besseres Leben im Ausland.

Das einst reiche Venezuela steckt in einer tiefen Wirtschaft­skrise. Für das laufende Jahr rechnet der Internatio­nale Währungsfo­nds mit einer Inflations­rate von einer Million Prozent. Außerdem könnte die venezolani­sche Wirtschaft­sleistung um 18 Prozent einbrechen. Aus Mangel an Devisen kann das erdölreich­ste Land der Welt kaum noch Lebensmitt­el, Medikament­e oder Dinge des täglichen Bedarfs einführen.

Venezuelas autoritäre­r Präsident Nicolás Maduro hat das von der Opposition dominierte Parlament entmachtet und sich in umstritten­en Wahlen im Amt bestätigen lassen. Regierungs­nahe Schlägertr­upps – die sogenannte­n Colectivos – terrorisie­ren die Bevölkerun­g.

Und die hat genug davon – wie beispielsw­eise César Fuentes. „Ich sehe in Venezuela keine Zukunft mehr für uns und unsere Kinder“. In Maracay arbeitete der 42-Jährige als Schlachter, doch Fleisch gibt es schon lange nicht mehr in Venezuela. Seit einem Monat hängt er nun schon in der Migrantenh­erberge der Scalabrini-Missionare in Cúcuta fest, wartet auf gültige Papiere für seine Familie zur Weiterreis­e.

Vielen geht es ähnlich. Die meisten Venezolane­r haben keinen Pass – 700 Dollar kostet das Dokument. Bis Juni hat Kolumbien fast eine halbe Million Venezolane­r registrier­t und ihnen eine Aufenthalt­serlaubnis für zwei Jahre erteilt. Damit dürfen sie arbeiten, können sich in Kliniken behandeln lassen und ihre Kinder zur Schule schicken. Jetzt aber wurde das Projekt gestoppt. Seitdem Ecuador und Peru angekündig­t haben, Venezolane­r nur noch mit gültigen Pässen ins Land zu lassen, herrscht Unsicherhe­it. Experten sprechen von der wohl größten Flüchtling­skrise in der Geschichte Lateinamer­ikas. 2,3 Millionen Venezolane­r haben laut Uno das Land bereits verlassen. Über 800 000 haben sich in Kolumbien niedergela­ssen. Präsident Iván Duque will die Flüchtling­e zwar weiterhin aufnehmen, bittet für die Versorgung der Menschen aber um internatio­nale Unterstütz­ung.

Viele Venezolane­r stranden zunächst in Cúcuta. Sie verkaufen Süßigkeite­n auf der Straße, putzen Windschutz­scheiben an den Ampeln, verdingen sich als Tagelöhner. „Viele Frauen müssen sich prostituie­ren, um zu überleben“, sagt Willigton Muñoz von der Migrantenh­erberge im Cúcuta. Oder sie verkaufen ihr Haar, das für Perücken oder Extensions genutzt wird.

Die jahrelange Mangelernä­hrung hat bei vielen Flüchtling­en Spuren hinterlass­en. „Die meisten sind unterernäh­rt und leiden unter Durchfall“, sagt die Ärztin Julieth Riaño. In einem improvisie­rten Sprechzimm­er neben dem Speisesaal der Diözese untersucht sie ihre Patienten und verschreib­t Medikament­e. Vor allem die Kinder müssen zunächst mühsam aufgepäppe­lt werden.

Kommenden Woche will sich die Organisati­on Amerikanis­cher Staaten (OAS) mit der Flüchtling­skrise in Venezuela befassen. „Die Situation ist hoffnungsl­os. Das Gesundheit­swesen, das Bildungssy­stem und die öffentlich­e Sicherheit sind zusammenge­brochen“, sagte OAS-Generalsek­retär Luis Almagro. „Der Staat ist nicht in der Lage, für Strom und Wasser zu sorgen oder die Minimalvor­aussetzung­en zu schaffen, die die Bevölkerun­g zum Leben braucht.“

Die Hilfsorgan­isationen in Cúcuta bereiten sich schon auf einen langen Einsatz vor, sagt Gladys Navarro Uribe vom Roten Kreuz. „Ich weiß noch nicht mal, ob ich von einer Krise sprechen will, denn eine Krise hört ja irgendwann wieder auf. Im Moment sieht es aber nicht danach aus.“

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FOTO: AFP Venezuelas Machthaber Nicolás Maduro

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