Saarbruecker Zeitung

Vom Katzenbiss bis zur Chemothera­pie

Die Arbeit eines Hausarztes ist vielfältig. Und der Stress wächst, weil der Nachwuchs fehlt. Ein Besuch in einer Praxis in Nunkirchen.

- VON GERRIT DAUELSBERG

NUNKIRCHEN Mit freiem Oberkörper sitzt der Patient im Sprechzimm­er. „Ich habe ein Ziehen im Kreuz.“Ein Leiden, bei dem Hausarzt Thomas Rehlinger schnell Abhilfe leisten kann. Er drückt am Rücken herum, legt dem Patienten die Hände in den Nacken und zieht ihn zu sich. Ein Knacken ertönt. „Ah, herrlich!“sagt der Mann. Die Blockade ist weg. „Vielen Dank, Herr Doktor!“Nächster Patient. Der Mann ist von einer Katze gebissen worden. Die Hand ist geschwolle­n. „Da sind Keime drin“, sagt Rehlinger und fügt augenzwink­ernd hinzu: „Die Tiere haben keine Mundhygien­e.“Der Patient bekommt Antibiotik­a.

Normaler Alltag in der Nunkircher Praxis. Irgendwie sieht es hier gar nicht aus wie beim Doktor. Die Sprechstun­denhilfen tragen hellgrün. Eine Farbe, die sich durch die ganze Praxis zieht. Als sie vor acht Jahren errichtet wurde, habe man bewusst darauf geachtet, dass die Räume nicht zu steril wirken, erzählt Rehlinger. Seine Patienten sind zwischen 0 und 106 Jahre alt. Vom Wehwehchen bis zur Chemothera­pie ist alles dabei.

Das Problem: Für die allermeist­en ist nur wenig Zeit da. Der drohende Ärztemange­l auf dem Land – auch und gerade hier in der Gegend um Wadern, die bereits jetzt als unterverso­rgt gilt – macht sich bemerkbar. „Die Belastung wird stärker“, sagt Rehlinger. Das zeigen auch die Zahlen: Vor drei Jahren, als unsere Zeitung die Nunkircher Praxis schon einmal besuchte, war von 1500 Fällen pro Quartal die Rede. Heute spricht Rehlinger von 2000 im vergangene­n Quartal. Der Durchschni­tt: 850 bis 900 Fälle. Und die große Ruhestands­welle steht erst noch bevor, wie der Präsident der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g (KV), Gunter Hauptmann, zuletzt im SZ-Interview sagte. Demnach wird man in den kommenden fünf bis zehn Jahren im Saarland von einem echten Ärztemange­l sprechen müssen.

Gegengeste­uert wird bereits. Auch Rehlinger hat mittlerwei­le Unterstütz­ung bekommen. So erhielt Arzthelfer­in Heike Jost eine so genannte Verah-Zusatzausb­ildung, finanziert aus einem Fonds der KV und der Krankenkas­sen. Nun erledigt sie eigenständ­ig Hausbesuch­e, nimmt Blut ab, misst den Blutzucker­spiegel, wechselt Verbände. Alles in ständigem Austausch mit dem Hausarzt, „Verah“steht für „Versorgung­sassistent in der Hausarztpr­axis“. „Das ist eine enorme Unterstütz­ung“, sagt Rehlinger. Ihm stehen derzeit zwei Verahs zur Seite, eine dritte ist in Ausbildung. So hat Rehlinger etwas mehr Zeit für seine Patienten in der Praxis. Wie etwa für die 78-jährige Frau, die jetzt im Sprechzimm­er sitzt und zum Routine-Check gekommen ist. „Dann gucken wir mal“, sagt der Arzt. Die Werte sind in Ordnung: Blut, Leber, Harnsäure, EKG. Nur der Blutdruck ist etwas hoch. „Hatten Sie Stress?“, fragt Rehlinger. „Nee, gar nicht.“Die Verdauung sei in Ordnung. „Außer wenn ich Sahne, Milch oder Eis esse.“Dann schildert die ältere Dame allerdings, dass sie zu Hause alleine nicht mehr so gut zurechtkom­mt. Rehlinger verspricht, dass die Verahs sich einmal bei ihr umschauen. Auch das gehört zu deren Aufgaben: das Lebensumfe­ld der zumeist älteren Patienten zu begutachte­n. Dabei geht es um Dinge wie ein seniorenge­rechtes Bad oder einen Sessellift. „Machen Sie mal Nägel mit Köpfen, was Sie zu Hause alles brauchen“, empfiehlt der Arzt.

„Das Gespräch ist ein wichtiger Teil der Therapie – zum Teil der wichtigste“, sagt Rehlinger. Das kostet Zeit, und Zeit ist eigentlich nicht vorhanden. „Ich nehme sie mir trotzdem. Aber ich habe immer das Gefühl, fremdgeste­uert zu sein.“Der Lohn für eine Wochenarbe­itszeit zwischen 50 und 70 Stunden sei dann aber auch die hohe Wertschätz­ung der Patienten. „Es gibt viel Treue und Dankbarkei­t.“Außerdem, fügt der Mediziner halb im Scherz hinzu, warte bei ihm zu Hause ohnehin nur selten jemand mit dem Essen. Der Arzt ist mit der saarländis­chen Wirtschaft­sministeri­n Anke Rehlinger (SPD) verheirate­t. Auch sie hat meistens lange Arbeitstag­e.

Im Sprechzimm­er verabschie­det sich die ältere Dame jetzt von ihrem Hausarzt. Sie kommt seit 16 Jahren zu Rehlinger, also seit er die Praxis führt. „Ich wechsle nicht gerne den Arzt“, sagt sie. Vertrauen spielt eine große Rolle. Auf dem Land ist die Beziehung oft sehr persönlich. „Viele sind mit dem Doktor per du“, sagt Rehlinger. Doch gerade dadurch gehen dem Arzt viele Dinge auch sehr nah: „Etwa ein- bis dreimal die Woche muss ich eine schlimme Diagnose erteilen.“Das nehme er dann zum Teil schon mit nach Hause.

Es ist inzwischen früher Nachmittag. Zeit für einen Kaffee in der kleinen Praxis-Küche, die zugleich Rehlingers Büro ist. Hier erledigt er die Schreibarb­eit, von der es übrigens immer mehr gibt. Doch zu viel klagen will er nicht. „Das ganze Gejammere bringt ja nichts.“Im Gegenteil: Es schreckt junge Mediziner ab, sich auf dem Land niederzula­ssen. Ohnehin schon habe die Hausarztme­dizin nicht den allerbeste­n Ruf. Sie sei zu lange belächelt worden, auch an der Uni, meint Rehlinger. Nach dem Motto: „Ein Hausarzt kann alles, aber nichts richtig.“Auch die Arbeitsbel­astung sei ein Problem. Hier müsse man gegensteue­rn, sagt Rehlinger. Vor allem mit Modellen, die den Ärzten auch ein Privatlebe­n ermögliche­n. „Von den jungen Leuten will heute keiner mehr von morgens um 7 bis abends um 21 Uhr arbeiten.“

Doch es ist auch nicht so, dass gar kein junger Mediziner mehr Hausarzt werden möchte: Ein paar Türen weiter hat Andreas Grub sein Büro. Der 32-Jährige bildet sich in der Praxis von Rehlinger zum Facharzt für Allgemeinm­edizin weiter. „Ich will mich später als Hausarzt niederlass­en“, sagt er. Natürlich sei auch ihm eine „Work-Life-Balance“wichtig. Allerdings sei das mit dem Privatlebe­n etwa im Krankenhau­s oft noch schwierige­r, gibt er zu bedenken. Außerdem schätze er an der Arbeit in einer Praxis einfach den Kontakt zu den Patienten.

Nun packt Grub seine Arzttasche. Gemeinsam mit Heike Jost geht es auf Hausbesuch. Für den jungen Arzt eine willkommen­e Abwechslun­g. So könne man sich ein Bild von der „sozialen Situation“der Patienten machen. Dass es als Hausarzt um mehr als nur um Spritzen und Medikament­e geht, hat auch Grub längst verinnerli­cht.

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FOTOS(2): OLIVER DIETZE Allgemeinm­ediziner Thomas Rehlinger betreute im vergangene­n Quartal etwa 2000 Patienten – Tendenz steigend.
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FOTO: OLIVER DIETZE Arzthelfer­in Heike Jost.

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