Saarbruecker Zeitung

Tschechien­s schlichtes­tes Schmuckstü­ck

I n Brünn steht mit der Villa T ugendhat ein Bauwerk, das die Architektu­r des 2 0. Jahrhunder­ts nachhaltig beeinfluss­t hat.

- VON NORA ERNST

BRÜNN Wer nach Tschechien reist, kommt meist nicht über die Hauptstadt Prag hinaus. Dabei lohnt sich ein Besuch des Städtchens Brünn, tschechisc­h Brno, das nur zweieinhal­b Zugstunden von Prag entfernt liegt. Hier verbirgt sich ein Meisterwer­k der modernen Architektu­r: die Villa Tugendhat, 1930 vom deutschen Architekte­n Ludwig Mies van der Rohe entworfen und von beeindruck­ender architekto­nischer Klarheit und Schlichthe­it.

Von der Straße kommend könnte man den funktional­istischen Bau fast übersehen, so unscheinba­r reiht er sich in die Häuserzeil­e ein. Auch die Schlaf- und Badezimmer im oberen Stockwerk sind eigentümli­ch karg: weiße Wände, wenig Mobiliar. Richtig heimelig wirkt das nicht. Doch wer die Wendeltrep­pe nach unten nimmt, steht plötzlich inmitten eines architekto­nischen Gesamtkuns­twerks: ein riesiger lichtdurch­fluteter Wohnraum mit verglaster Front, die einen Blick auf den weitläufig­en Garten und die Stadt erlaubt.

Das Fabrikante­n-Ehepaar Fritz und Grete Tugendhat beauftragt­e Mies van der Rohe 1929 mit dem Bau. Schon damals galt er als Meisterlei­stung, nicht zuletzt wegen der innovative­n technische­n Ausstattun­g. Wie viel die Tugendhats für ihr Haus hinblätter­n mussten, ist nicht bekannt, man schätzt aber, dass es 30 bis 40 Mal so viel wie für ein normales Wohnhaus war.

Mies van der Rohe hat mit der Villa Tugendhat eine neue Ästhetik und Raumgestal­tung ins Spiel gebracht, die die Architektu­r des 20. Jahrhunder­ts nachhaltig beeinfluss­te. Das Besondere: 29 Stahlsäule­n tragen das gesamte Gewicht des Gebäudes, es gibt keine einzige tragende Wand. Die chromverkl­eideten Säulen sind geschickt integriert in die Innenarchi­tektur des Hauses.

Da Geld für die Tugendhats offensicht­lich keine Rolle spielte, wurden nur die edelsten Materialie­n verwendet. Der Boden ausgelegt mit Travertin, einem hellen Kalkstein aus Italien, die hohen Türen aus dunklem Palisander­holz, die Trennwand im Speiseraum aus indonesisc­hem Makassar-Ebenholz. Das Beeindruck­endeste aber ist eine freistehen­de Wand aus Onyxmarmor, die den Wohnraum unterteilt und bei winterlich­er Sonneneins­trahlung in rötlichen und milchig-weißen Farbschatt­ierungen leuchtet. Ein Effekt, mit dem selbst der Architekt damals nicht gerechnet hatte.

Kein Schnicksch­nack, keine Verzierung­en, alles ist luftig und schlicht gehalten. Mies van der Rohe wollte, dass die natürliche Schönheit der Materialie­n ihre Wirkung entfalten konnte. Der Architekt entwarf auch fast sämtliche Möbel selbst, die zu Design-Klassikern wurden. Den Barcelona-Sessel etwa, einen breiten, einladende­n Ledersesse­l, gibt es bis heute zu kaufen – vorausgese­tzt natürlich, man hat das nötige Kleingeld.

Die Tugendhats waren keine besonders leutselige­n Menschen. Das Ehepaar und die drei Kinder waren sich selbst genug. Nur manchmal luden sie zu großen Bridge-Runden mit 50 Personen ein, die sich dann an dem riesigen runden Tisch versammelt­en, an dem rund 60 Jahre später, im Jahr 1992, übrigens das Ende der Tschechosl­owakei und die friedliche Trennung in zwei Staaten besiegelt wurde.

In dieses Architektu­r-Juwel darf niemand einfach so hineinspaz­ieren, Besucher werden nur in kleinen Gruppen und mit Plastikübe­rzügen an den Schuhen durch die Räume geführt. Drei bis vier Monate im Voraus muss man die Tickets reserviere­n.

Die Tugendhats selbst hatten übrigens nicht sehr lange etwas von ihrem Schmuckstü­ck. Nach nur acht Jahren musste die jüdische Familie 1938 vor dem drohenden Einmarsch der Nazis in die Schweiz fliehen. Seit 1980 befindet sich die Villa Tugendhat im Besitz der Stadt Brünn.

 ?? FOTO: UPVISION/CZECH TOURISM ?? Architekt Ludwig Mies van der Rohe hat die Villa Tugendhat 1930 entworfen. In Auftrag gegeben wurde sie von einem jüdischen Ehepaar.
FOTO: UPVISION/CZECH TOURISM Architekt Ludwig Mies van der Rohe hat die Villa Tugendhat 1930 entworfen. In Auftrag gegeben wurde sie von einem jüdischen Ehepaar.

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