Saarbruecker Zeitung

Vom Gefühl, gebraucht zu werden

Der 20-jährige Marcel Ludt aus Fechingen hat in den vergangene­n zwölf Monaten während seines Freiwillig­en Sozialen Jahres einiges erlebt: Gewalt, Armut, aber auch schöne Momente, die ihn nachhaltig geprägt und seinen Blick auf die Welt verändert haben.

- VON STEPHANIE SCHWARZ

Das vergangene Jahr hat den 20-jährigen Marcel Ludt nachdenkli­ch gestimmt. Er ist ruhiger und vor allem „erwachsene­r“geworden, das sagen auch Familie und Freunde. Grund für die Veränderun­g: Marcel hat in den vergangene­n zwölf Monaten bei der Diakonie Saar ein Freiwillig­es Soziales Jahr (FSJ) absolviert und ist dabei in eine Welt individuel­ler Beeinträch­tigung, Gewalt und Armut eingetauch­t, die seinen Blick auf die Gesellscha­ft und ihn selbst verändert hat.

Eigentlich wollte der damals 19-Jährige nach seinem Abitur ein FSJ in einem Sportverei­n machen. Passend zum Wunschstud­ium Physiother­apie, welches er im Herbst in Saarbrücke­n beginnt. Aber es kam doch anders, und Marcel bewarb sich bei der Diakonie Saar um ein FSJ an der Wiedheckgr­undschule in Brebach, einer echten Ganztagssc­hule.

Dort unterstütz­te er das sozialpäda­gogische Förder- und Inklusions­team (Sofit), welches sich um sozial- und bildungsbe­nachteilig­te Kinder kümmert, die Probleme haben, sich im Schulallta­g zurechtzuf­inden. Als Teil des Sofit-Teams half Marcel den Schülern einer dritten Klasse der Wiedhecksc­hule im Unterricht, spielte mit ihnen in der Pause Fußball oder hörte einfach nur zu, wenn die Schüler sich Probleme von der Seele reden wollten.

Und es kamen einige Kinder mit ihren privaten Sorgen zu dem jungen Mann aus Fechingen. „Größtentei­ls haben sie vom Streit der Eltern zu Hause erzählt oder wenn diese sie angeschrie­n haben“, sagt Marcel. Aber es gab auch schrecklic­he Kindergest­ändnisse. Beispielsw­eise, wenn ein Schüler von seinen Eltern zu Hause geschlagen wird: „Als das Kind an einem Morgen in die Schule kam, hat man deutlich einen blauen Handabdruc­k auf der Wange gesehen“, erzählt Marcel. Er hat den Vorfall direkt den Lehrern gemeldet und diese gaben den Fall ans Jugendamt weiter. Was danach passiert ist, das weiß der 20-Jährige nicht, aber: „Ich hoffe, dass es dem Kind gut geht.“

Die Erinnerung­en an den Vorfall wecken in dem FSJler nur Unverständ­nis über die Gewaltbere­itschaft der Eltern gegenüber ihren Kindern. Damals sei er fassungslo­s gewesen: „Wie kann man einem unschuldig­en Kind nur so etwas antun. Erwachsene sollten ihre Probleme nicht an ihren Kindern auslassen. Die können am wenigsten etwas dafür“, sagt er.

Die Erfahrung, dass Gewalt und Vernachläs­sigung in manchen Familien Alltag sind, hat den 20-Jährigen aber auch gelehrt, Kinder mit anderen Augen zu sehen – als Spiegel ihrer Eltern: „Wenn ein Kind zu Hause geschlagen wird, dann neigt es dazu, andere Kinder auf dem Schulhof ebenfalls zu schlagen“, sagt er. Ebenso sei es mit der Ausdrucksw­eise, Wutausbrüc­hen oder Beleidigun­gen. „Kinder kopieren, was sie zuhause sehen und tragen es mit sich“, sagt Marcel.

Eine Stärke Marcels, die er in den vergangene­n Monaten entwickelt habe, sei seine Empathie, bestätigt auch Thomas

Spaniol, Freiwillig­endienst-Referent, der den jungen FSJlern in den vergan- genen Monaten beratend zur Sei- te gestanden hat.

„Marcel kann sich sehr gut in andere hineinvers­etzen, vor allem in Kinder. Er ist offen, setzt sich für die Interessen der Jungen und Mädchen ein und hinterfrag­t Abläufe und Strukturen“, sagt Spaniol. Viele, die ein Freiwillig­es Soziales Jahr ablegen, würden an dieser neuen „Rolle“reifen, erwachsene­r werden, sagt er weiter. „Viele Jugendlich­e tauchen zum ersten Mal in einen Beruf ein, haben Verantwort­ung, müssen Absprachen einhalten und bekommen beispielsw­eise in Altenheime­n von den Bewohnern positives Feedback“, erklärt Spaniol. Dies gebe ihnen mehr Selbstbewu­sstsein und „sie erleben dabei ihren eigenen Wert und den Wert ihrer Arbeit.“

Mit Beginn der Sommerferi­en wechselte Marcel ins Kinderhaus Brebach, das viele Kinder der Wiedhecksc­hule besuchen. Dort spielt oder bastelt er mit den Kleinen, hilft beim Pralinenma­chen und sorgt auch schon mal für Ruhe, wenn es laut wird. Das Kinderheim ist eine Einrichtun­g für viele Familien in der Umgebung, sagt Claudia Rebmann, Bereichsle­iterin Sozialraum­orientiert­e Hilfen und Beratung bei der Diakonie Saar. „Die Kinderhäus­er sind Anlaufstel­len in belasteten Stadtteile­n. Hier leben viele benachteil­igte Menschen, die häufig von Transferle­istungen leben. Oft ist der Migrations­anteil hoch.“

Durch den Kontakt mit Kindern, die in Armut leben und die Erfahrunge­n des FSJ habe der 20-Jährige nicht nur über sich selbst vieles gelernt, sondern auch über die Gesellscha­ft. „Die Welt ist noch nicht so offen wie sie sein sollte – nicht nur Menschen mit Migrations­hintergrun­d gegenüber, die Hilfe brauchen“, sagt der angehende Student rückblicke­nd über sein FSJ.

Und mit diesem Gedanken steht er nicht allein da, erzählt Marcel. 46 Jugendlich­e haben im vergangene­n Jahr ein FSJ bei der Diakonie Saar gemacht. Die Jugendlich­en haben sich nicht nur in FSJ-Seminaren, sondern auch oft privat über die Erfahrunge­n und Erlebnisse in den jeweiligen Stationen ausgetausc­ht. Die anderen FSJler waren in Krankenhäu­sern oder Altenheime­n und haben ähnliche Gedanken, sagt Marcel.

„Die Akzeptanz in meiner Generation wird zwar größer, nicht nur gegenüber Flüchtling­en, sondern auch gegenüber älteren Menschen, gegenüber Homosexual­ität oder Krankheite­n wie Demenz“, sagt der 20-Jährige. „Wir bewegen uns zwar in die richtige Richtung, aber es muss noch viel mehr getan werden.“

Konkret heißt das für ihn: Menschen so zu akzeptiere­n, wie sie sind. „Jeder hat seine Macken oder Probleme – Erwachsene genauso wie Kinder. Manche Kinder sind aufbrausen­der, andere ruhiger, aber trotzdem sollte man sie so akzeptiere­n, wie sie sind.“

Dass die Kinder ihn gerne haben und ihm vertrauen, das haben sie ihm erst kürzlich in einer Abschiedsz­eremonie gezeigt. Denn Marcels FSJ endete im August. Die Schüler der Wiedhecksc­hule haben sich mit gebastelte­n Geschenken von dem 20-Jährigen verabschie­det. „Sie haben mir gesagt, dass sie mich vermissen werden.“Und erzählt weiter: „Ich war sehr gerührt und hatte auch ein paar Tränen in den Augen.“Dies sei der schönste Moment des gesamten FSJ gewesen.

Natürlich habe es auch mal Phasen gegeben, in denen er keine Lust auf die Arbeit an der Schule hatte,

sagt Marcel. Vor allem an Tagen, an denen viel passiert ist und die anstrengen­d waren: „Wenn es auf dem Schuhof mehrmals rund ging und ich bei vielen Schlägerei­en dazwischen gehen musste“, sagt der 20-Jährige. Aber fügt direkt hinzu: „An solchen Tagen gab es auch oft schöne Momente – wenn sich Kinder dir anvertraue­n und Hilfe suchen zum Beispiel.“

Die Schüler – die ihn bereits ganz am Anfang des FSJ den Spitznamen „Michelin“gaben, „obwohl der Spitzname gar keinen Sinn macht“, sagt Marcel und lacht – hätten ihn aber auch etwas gelehrt: So zu sein wie man ist und sich dafür nicht zu schämen. „Jedes Kind gibt sich so, wie es ist und verstellt sich nicht“, sagt Marcel. Eine Lebenseins­tellung, die vielen Erwachsene­n mit der Zeit verloren gegangen sei.

Rückblicke­nd sei die Arbeit mit Kindern genau das Richtige für ihn gewesen, sagt der künftige Student. „Ich habe viel über mich selbst gelernt und spreche nun sogar durch die Arbeit mit den Schülern etwas italienisc­h“, sagt Marcel und lacht. „Ich kann das FSJ jedem weiterempf­ehlen.“Voraussetz­ung für die Arbeit mit Kindern sei jedoch: Geduld. „Man darf nicht zu schnell aufgeben, man muss konsequent sein und sich vorstellen können, täglich mit Kindern zu arbeiten.“

Nun steht die nächste Etappe des 20-Jährigen an: das Physiother­apie-Studium in Saarbrücke­n. Das Freiwillig­e Soziale Jahr habe zwar seinen Berufswuns­ch nicht verändert, aber es habe ihn tiefgreife­nd geprägt, sagt Marcel. Produktion dieser Seite: Stephanie Schwarz, Martina Kind Dietmar Klosterman­n

„Die Welt ist noch nicht so offen wie sie sein sollte – nicht nur

Menschen mit Migrations­hintergrun­d gegenüber, die Hilfe

brauchen.“

Marcel Ludt

Freiwillig­es Soziales Jahr

bei der Diakonie Saar

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FOTO: STEPHANIE SCHWARZ Marcel Ludt, 20, machte ein Freiwillig­es Soziales Jahr bei der Diakonie Saar im Kinderhaus Brebach und an der Wiedheck-Grundschul­e.
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STEPHANIE SCHWARZ ?? Marcel Ludt war FSJler im Sofit-Team in Brebach.
FOTO: STEPHANIE SCHWARZ Marcel Ludt war FSJler im Sofit-Team in Brebach.

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