Saarbruecker Zeitung

Die SPD-Chefin bittet zum Tanz aus der Krise

Die Genossen stecken nach einem halben Jahr Groko weiter im Tief. Neuen Schwung soll eine Klausurtag­ung in Berlin bringen – inklusive Schwof.

- VON GEORG ISMAR UND CARSTEN HOFFMANN

(dpa) Andrea Nahles lädt zum Tanz. Schwof statt Schmollen über schlechte Umfragen. Die SPD ist auch nur 50 Jahre älter als das vor 105 Jahren eröffnete Kult-Lokal Clärchens Ballhaus in Berlin-Mitte. Hierhin hat die mächtigste Frau der Sozialdemo­kratie die 152 anderen Bundestags­abgeordnet­en der SPD für gestern Abend zum geselligen Fraktionsa­bend eingeladen. Doch Wegtanzen lässt sich die Krise der Partei nicht. Für die zweitägige Klausur mit Tanzabend steht mal wieder der Erneuerung­sprozess ganz oben auf der Agenda.

Doch ein halbes Jahr nach dem erneuten Eintritt in eine große Koalition wächst der Druck auf die Vortänzeri­n Nahles, Partei- und Fraktionsc­hefin. Ihre persönlich­en Werte? Im Keller. Und die AfD ist zum zweiten Mal in einer Umfrage an der SPD vorbeigezo­gen. Bei den Wahlen in den wichtigen Bundesländ­ern Bayern und Hessen droht ein Debakel, in Bayern könnte es sogar nur Platz vier werden.

Vizekanzle­r Olaf Scholz erfreut sich als Mann der Exekutive besserer Umfragewer­te als Nahles, und es ist kein Geheimnis, dass er sich eine Kanzlerkan­didatur zutrauen würde. Doch wenn man auch im Bund vielleicht nur noch Nummer vier ist, braucht es dann noch einen Mann für die K-Frage? Noch ist die Partei geschlosse­n wie lange nicht mehr. Aber nicht stabil. Gerade die jungen Leute um Juso-Chef Kevin Kühnert sind Motoren der Veränderun­g. Der Kampf für ein liberales Europa ist für sie das neue einigende Band, bei allem Groko-Verdruss.

Dass in der Union weiter die Diskussion um die Asylpoliti­k tobt, ärgert Nahles enorm, wie sie zum Auftakt der Fraktionsk­lausur deutlich macht. Das schade der ganzen Regierung. Von Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) fordert sie „null Toleranz gegenüber Hetzern“.

Auf wenig sind die Sozialdemo­kraten so stolz wie auf das Nein zu Adolf Hitlers Ermächtigu­ngsgesetz; der Sitzungssa­al der Fraktion ist nach dem früheren SPD-Chef Otto Wels benannt, der 1933 in Richtung der NSDAP-Abgeordnet­en sagte: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“

Heute ist das Parteiensp­ektrum in Bewegung, und die SPD gerät dabei zunehmend unter die Räder – es fehlen mitreißend­e neue Köpfe und Ideen. Die „Aufstehen“-Bewegung der Linken-Politikeri­n Sahra Wagenknech­t ist da noch das kleinste Konkurrenz­problem. Sie wird mit dem Hinweis weggewisch­t, die einzige linke Sammlungsb­ewegung sei seit 1863 die SPD. Das viel größere Problem ist die AfD.

470 000 Wähler verlor die SPD bei der Bundestags­wahl 2017 an die Rechtspopu­listen. Sie sind für viele heute die Partei des „kleinen Mannes“. Sie eröffnen in den Innenstädt­en, gerade im Osten, Bürgerbüro­s, laden zum Singen von Volksliede­rn ein, kümmern sich um Hilfe bei Rentenantr­ägen – während der SPD vielerorts die Leute fehlen. Daran will die Partei arbeiten.

Das Groko-Verspreche­n lautete wie unter Sigmar Gabriel 2013: Gut regieren, dann vertrauen die Bürger wieder der SPD, und die Werte gehen nach oben. Stattdesse­n: weiterer Niedergang. Nach dem schlechtes­ten Bundestags­wahlergebn­is (20,5 Prozent) und dem Abserviere­n

„Ich fürchte, die Partei wird langsam implodiere­n.“Ein einflussre­icher Genosse,

der anonym bleiben will

von Martin Schulz ging es nicht nach oben – sondern weiter runter, auf 16 bis 17 Prozent. „Ich fürchte, die Partei wird langsam implodiere­n“, meint ein einflussre­icher Genosse. Ein früheres Präsidiums­mitglied sagt: „Das mit Nahles und Scholz geht nicht gut.“ In der Flüchtling­sfrage ist die Partei gespalten zwischen Willkommen­skultur und Abschottun­g. Zuletzt versuchte Scholz das linke Profil zu schärfen mit einer Rentengara­ntie bis 2040, aber ohne Finanzieru­ngskonzept. Zugleich sät sein Ministeriu­m Zweifel, ob das SPD-Lieblingsp­rojekt einer stärkeren Besteuerun­g von Internetko­nzernen kommen wird – man fürchtet Gegenmaßna­hmen der US-Seite.

Nahles bringt mal Hilfen für die Türkei ins Spiel, dann möchte sie Leistungsk­ürzungen für junge Hartz-IV-Bezieher abschaffen oder versucht, sich mitten im Dürresomme­r von den Grünen abzusetzen, indem sie beim Klimaschut­z auf die Bremse tritt. Es sind einige Testballon­s, die aufsteigen, dabei sollte munteres Themenhopp­ing wie im Wahlkampf eigentlich aufhören.

Seit Jahren ist die Partei gefangen zwischen einem Mitte-Kurs und einem Links-Kurs, durch die große Koalition verschwimm­en Positionen – das unklare Profil fördert nach Analyse von Demoskopen nicht den Zuspruch. Der kurze Höhenflug des Martin Schulz fand statt, als es einen klaren Schwenk nach links gab, danach wurden die Positionen aber schnell glatt geschliffe­n. Es muss Nahles und Scholz zu denken geben, welchen Widerhall abserviert­e Genossen wie Gabriel und Schulz noch haben. Gerade an der Basis.

In einem Jahr will die SPD entscheide­n, ob sie die Koalition mit der Union fortsetzen will. Womöglich geht es so aus wie schon das Mitglieder­votum zum Groko-Eintritt: Die Koalition scheint vielen Genossen das kleinere Übel zu sein. Im Vergleich zu Neuwahlen.

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FOTO: NIETFELD/DPA Fokus auf die SPD: Die Umfragewer­te der Partei und ihrer Chefin Andrea Nahles sind im Keller. Auch damit befasst sich die Klausurtag­ung in Berlin.
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FOTO: SPATA/DPA Kult-Kulisse für die SPD: Im legendären Tanz-Lokal Clärchens Ballhaus in Berlin-Mitte fand das Abendprogr­amm der Fraktionsk­lausur statt.

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