Die SPD-Chefin bittet zum Tanz aus der Krise
Die Genossen stecken nach einem halben Jahr Groko weiter im Tief. Neuen Schwung soll eine Klausurtagung in Berlin bringen – inklusive Schwof.
(dpa) Andrea Nahles lädt zum Tanz. Schwof statt Schmollen über schlechte Umfragen. Die SPD ist auch nur 50 Jahre älter als das vor 105 Jahren eröffnete Kult-Lokal Clärchens Ballhaus in Berlin-Mitte. Hierhin hat die mächtigste Frau der Sozialdemokratie die 152 anderen Bundestagsabgeordneten der SPD für gestern Abend zum geselligen Fraktionsabend eingeladen. Doch Wegtanzen lässt sich die Krise der Partei nicht. Für die zweitägige Klausur mit Tanzabend steht mal wieder der Erneuerungsprozess ganz oben auf der Agenda.
Doch ein halbes Jahr nach dem erneuten Eintritt in eine große Koalition wächst der Druck auf die Vortänzerin Nahles, Partei- und Fraktionschefin. Ihre persönlichen Werte? Im Keller. Und die AfD ist zum zweiten Mal in einer Umfrage an der SPD vorbeigezogen. Bei den Wahlen in den wichtigen Bundesländern Bayern und Hessen droht ein Debakel, in Bayern könnte es sogar nur Platz vier werden.
Vizekanzler Olaf Scholz erfreut sich als Mann der Exekutive besserer Umfragewerte als Nahles, und es ist kein Geheimnis, dass er sich eine Kanzlerkandidatur zutrauen würde. Doch wenn man auch im Bund vielleicht nur noch Nummer vier ist, braucht es dann noch einen Mann für die K-Frage? Noch ist die Partei geschlossen wie lange nicht mehr. Aber nicht stabil. Gerade die jungen Leute um Juso-Chef Kevin Kühnert sind Motoren der Veränderung. Der Kampf für ein liberales Europa ist für sie das neue einigende Band, bei allem Groko-Verdruss.
Dass in der Union weiter die Diskussion um die Asylpolitik tobt, ärgert Nahles enorm, wie sie zum Auftakt der Fraktionsklausur deutlich macht. Das schade der ganzen Regierung. Von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) fordert sie „null Toleranz gegenüber Hetzern“.
Auf wenig sind die Sozialdemokraten so stolz wie auf das Nein zu Adolf Hitlers Ermächtigungsgesetz; der Sitzungssaal der Fraktion ist nach dem früheren SPD-Chef Otto Wels benannt, der 1933 in Richtung der NSDAP-Abgeordneten sagte: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“
Heute ist das Parteienspektrum in Bewegung, und die SPD gerät dabei zunehmend unter die Räder – es fehlen mitreißende neue Köpfe und Ideen. Die „Aufstehen“-Bewegung der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht ist da noch das kleinste Konkurrenzproblem. Sie wird mit dem Hinweis weggewischt, die einzige linke Sammlungsbewegung sei seit 1863 die SPD. Das viel größere Problem ist die AfD.
470 000 Wähler verlor die SPD bei der Bundestagswahl 2017 an die Rechtspopulisten. Sie sind für viele heute die Partei des „kleinen Mannes“. Sie eröffnen in den Innenstädten, gerade im Osten, Bürgerbüros, laden zum Singen von Volksliedern ein, kümmern sich um Hilfe bei Rentenanträgen – während der SPD vielerorts die Leute fehlen. Daran will die Partei arbeiten.
Das Groko-Versprechen lautete wie unter Sigmar Gabriel 2013: Gut regieren, dann vertrauen die Bürger wieder der SPD, und die Werte gehen nach oben. Stattdessen: weiterer Niedergang. Nach dem schlechtesten Bundestagswahlergebnis (20,5 Prozent) und dem Abservieren
„Ich fürchte, die Partei wird langsam implodieren.“Ein einflussreicher Genosse,
der anonym bleiben will
von Martin Schulz ging es nicht nach oben – sondern weiter runter, auf 16 bis 17 Prozent. „Ich fürchte, die Partei wird langsam implodieren“, meint ein einflussreicher Genosse. Ein früheres Präsidiumsmitglied sagt: „Das mit Nahles und Scholz geht nicht gut.“ In der Flüchtlingsfrage ist die Partei gespalten zwischen Willkommenskultur und Abschottung. Zuletzt versuchte Scholz das linke Profil zu schärfen mit einer Rentengarantie bis 2040, aber ohne Finanzierungskonzept. Zugleich sät sein Ministerium Zweifel, ob das SPD-Lieblingsprojekt einer stärkeren Besteuerung von Internetkonzernen kommen wird – man fürchtet Gegenmaßnahmen der US-Seite.
Nahles bringt mal Hilfen für die Türkei ins Spiel, dann möchte sie Leistungskürzungen für junge Hartz-IV-Bezieher abschaffen oder versucht, sich mitten im Dürresommer von den Grünen abzusetzen, indem sie beim Klimaschutz auf die Bremse tritt. Es sind einige Testballons, die aufsteigen, dabei sollte munteres Themenhopping wie im Wahlkampf eigentlich aufhören.
Seit Jahren ist die Partei gefangen zwischen einem Mitte-Kurs und einem Links-Kurs, durch die große Koalition verschwimmen Positionen – das unklare Profil fördert nach Analyse von Demoskopen nicht den Zuspruch. Der kurze Höhenflug des Martin Schulz fand statt, als es einen klaren Schwenk nach links gab, danach wurden die Positionen aber schnell glatt geschliffen. Es muss Nahles und Scholz zu denken geben, welchen Widerhall abservierte Genossen wie Gabriel und Schulz noch haben. Gerade an der Basis.
In einem Jahr will die SPD entscheiden, ob sie die Koalition mit der Union fortsetzen will. Womöglich geht es so aus wie schon das Mitgliedervotum zum Groko-Eintritt: Die Koalition scheint vielen Genossen das kleinere Übel zu sein. Im Vergleich zu Neuwahlen.