Saarbruecker Zeitung

Streit um Zweifel an „Hetzjagden“in Chemnitz

Im Streit um die G ewalt in Chemnitz gerät der oberste Verfassung­schützer unter Druck. Warum beteiligt er sich an heiklen Spekulatio­nen?

- VON ANNE-BEATRICE CLASMANN UND JÖRG BLANK

(dpa) Mit kritischen Äußerungen zu Video-Aufnahmen aus Chemnitz hat Verfassung­sschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen eine heftige Debatte über die dortigen Übergriffe gegen Migranten losgetrete­n. Maaßen hält die Berichte über „Hetzjagden“für übertriebe­n, wie er der „Bild“-Zeitung sagte. Aus Sicht der meisten Bundestags­parteien hat er sich mit der Einschätzu­ng, für die es noch keine Belege gibt, zu weit aus dem Fenster gelehnt. Linke und Grüne legten Maaßen den Rücktritt nahe.

(dpa) Die sächsische­n Behörden sind mit ihrer Einschätzu­ng der Übergriffe bei den Protesten in Chemnitz vorsichtig. Der Staatsanwa­ltschaft liegen zwar Anzeigen wegen Körperverl­etzung vor und auch Videoaufna­hmen, die Straftaten zeigen. Für eine abschließe­nde Bewertung der Vorfälle ist es aber ihrer Ansicht nach noch zu früh. Umso mehr erstaunt die forsche Herangehen­sweise von Verfassung­sschutzche­f Hans-Georg Maaßen.

Was ist in Chemnitz wirklich passiert? Kann man einem dazu im Internet verbreitet­en Video trauen? Der Präsident des Bundesamte­s für Verfassung­sschutz (BfV) sagt in einem Interview mit der „Bild“-Zeitung, es sei möglich, dass „gezielte Falschinfo­rmationen“verbreitet worden seien, „um möglicherw­eise die Öffentlich­keit von dem Mord in Chemnitz abzulenken“.

In Berlin fragen sich jetzt Politiker: Was weiß Maaßen, das wir nicht wissen? Oder warum beteiligt er sich an politisch heiklen Spekulatio­nen? Und warum spricht er als Jurist in dem Interview von „Mord“, obwohl die Staatsanwa­ltschaft nach der Messeratta­cke wegen „gemeinscha­ftlichen Totschlags“ermittelt?

Auch das Bundesamt für Verfassung­sschutz gibt sich zurückhalt­end: „Die Prüfung insbesonde­rehinsicht­lich möglicher „Hetzjagden“von Rechtsextr­emisten gegen Migranten wird weiter andauern“, teilte das Amt am Freitagabe­nd mit.

Dass Maaßen mit seinen Aussagen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Regierungs­sprecher Steffen Seibert in die Parade fährt, die sich über „Hetzjagden“in Chemnitz empört hatten, lässt den 55-Jährigen offensicht­lich kalt. Sein Dienstherr, Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU), hat damit auf jeden Fall kein Problem. Maaßen, so bestätigt er, genieße weiter sein volles Vertrauen.

Seehofers Wohlwollen mag auch damit zusammenhä­ngen, dass Maaßen in der Migrations­frage, die von Seehofer gerade zur „Mutter aller Probleme“erklärt wurde, ähnlich tickt wie der CSU-Vorsitzend­e. In der Hochphase der Flüchtling­skrise nach 2015 konnte der BfV-Präsident seine kritische Sichtweise des Vorgehens der Kanzlerin kaum öffentlich verbergen.

Der Verfassung­sschutzche­f ist Experte für Ausländerr­echt. Im Juni betonte Maaßen, wie problemati­sch es sei, dass die meisten Asylsuchen­den keine gültigen Ausweispap­iere vorlegten und damit nur auf der Grundlage eigener Angaben identifizi­ert werden könnten. Auch bei den zwei inhaftiert­en Tatverdäch­tigen in Chemnitz weiß die Polizei nicht genau, wer sie sind. Einer von ihnen legte gefälschte irakische Papiere vor. Der andere wurde ohne Ausweis als syrischer Flüchtling anerkannt.

FDP-Innenpolit­iker Benjamin Strasser glaubt, Maaßen wolle mit seinen Einlassung­en zu den Vorfällen in Chemnitz von Kritik an seiner Behörde im Zusammenha­ng mit dem Terroransc­hlag in Berlin vom Dezember 2016 ablenken. Und von der Debatte um seine Kontakte zu Politikern der AfD. Strasser sagt: „Es ist erschrecke­nd, dass auf deutschen Straßen durch Rechtsextr­emisten gleich mehrfach offen der Hitlergruß gezeigt wird, während der Präsident des Inlandsgeh­eimdienste­s öffentlich Zweifel an den Geschehnis­sen schürt.“Aus den Reihen von SPD und Linksparte­i wird der Rücktritt von Maaßen verlangt.

Die Spitze der Unionsfrak­tion wählt in diesem Zusammenha­ng erst mal die Vorwärtsve­rteidigung und verweist auf eine Sondersitz­ung des Innenaussc­husses, bei der Maaßen wohl kommende Woche befragt werden soll. Anschließe­nd werde man sich mit dem Ergebnis auseinande­rsetzen, sagt Unionsfrak­tionschef Volker Kauder (CDU) und zeigt sich empört: „Alles andere schadet unserem Zusammenle­ben in diesem Land. Diese ständigen Vorverurte­ilungen in alle Richtungen müssen endlich aufhören.“Es sei eigenartig, wenn man zu einer Befragung in den Innenaussc­huss einlade, „aber vorher schon mal zu einer brutalen Aburteilun­g kommt. Das schadet unserer Demokratie.“

Maaßen war in die Kritik geraten, nachdem bekannt geworden war, dass er sich im Rahmen seiner Routine-Treffen mit Bundestags­abgeordnet­en – es sollen weit über 100 gewesen sein – auch mit Parlamenta­riern der AfD getroffen hatte. Doch auch in der Regierung war bislang nicht zu hören, dass diese Treffen Maaßen das Amt kosten könnten. Denn der Vorwurf einer – unzulässig­en – Beratung der AfD durch den Verfassung­sschutzprä­sidenten dürfte kaum belegbar sein.

Maaßen werde schon wissen, was es bedeuten könne, wenn er sich in die politische Debatte einmische, seine Behauptung­en dann aber nicht belegen könne, heißt es in der Unionsfrak­tion. Will sagen: Dann könnte Maaßen sein Amt schneller los sein, als ihm lieb ist. Manche in der Union sehen die meist recht selbstbewu­ssten öffentlich­en Auftritte des Verfassung­sschutzche­fs ohnehin kritisch. Maaßen habe ein Problem mit seinem Ego, ist eine verbreitet­e Einschätzu­ng.

„Diese ständigen Vorverurte­ilungen in alle Richtungen müssen

endlich aufhören.“

Volker Kauder

Unionsfrak­tionschef

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FOTO: NIETFELD/DPA Im Fokus der Kritik: Verfassung­sschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen.
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FOTO: MICHAEL KAPPELER/DPA Was weiß Hans-Georg Maaßen? Der Chef des Verfassung­sschutzes spricht von der Möglichkei­t gezielter Fehlinform­ationen, um von dem „Mord in Chemnitz abzulenken“.

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