Saarbruecker Zeitung

Der Tag, der die Welt bis heute prägt

Einer der größten Finanzmark­tschocks der Wirtschaft­sgeschicht­e jährt sich zum zehnten Mal: Am 15. September 2008 ging die US-Bank Lehman Brothers pleite – mit verheerend­en Folgen.

- VON THOMAS KAUFNER, HANNES BREUSTEDT UND GEORG ISMAR

NEW YORK

(dpa) Das Unheil schlich sich auf leisen Sohlen an – selbst von Fachleuten wurde es unterschät­zt. Alles sieht im Frühjahr 2007 zunächst nach einer auf die USA begrenzten Krise des dortigen Immobilien­markts aus. Doch dann rauschen sie durch die Medien: die Bilder von Bankern, die ihre Sachen packen und mit Kartons das Hochhaus verlassen.

An diesem Samstag, 15. September, vor zehn Jahren erschütter­te der Kollaps der Investment­bank Lehman Brothers die Finanzmärk­te und brachte die Weltwirtsc­haft an den Rand des Zusammenbr­uchs. „Den 15. September 2008 werde ich niemals vergessen“, sagt Chefvolksw­irt Jörg Krämer von der Commerzban­k. Der Tag steht für eines der schwärzest­en Kapitel der Wirtschaft­sgeschicht­e: Millionen Menschen werden arbeitslos, viele verlieren ihre Eigenheime oder Ersparniss­e und werden in die Armut gedrängt. Die Folge sind tiefe gesellscha­ftliche Risse, denn während verantwort­liche Manager kaum belangt werden, zahlt die breite Bevölkerun­g die Zeche. Die Wut darüber bereitet radikalen politische­n Strömungen den Boden.

Wie konnte es so weit kommen? „Lehman war keine besonders große Bank, doch sie hätte beinahe das globale Finanzsyst­em in den Abgrund gezogen“, erklärt Experte Harold James von der Universitä­t Princeton. Mit vielen Töchtern und Zweckgesel­lschaften sei Lehman typisch für das Dickicht der Finanzmärk­te gewesen, in dem faule Immobilien­kredite zu toxischen Wertpapier­en verpackt und – mit dubiosen Gütesiegel­n großer Ratingagen­turen versehen – weltweit bei Investoren platziert werden. Als die Preise am US-Häusermark­t sinken und die Hypotheken der heillos überschuld­eten Eigenheime­r wertlos werden, entsteht der Flächenbra­nd. Die Hypotheken­marktkrise wächst sich zu einer Bankenkris­e aus. Großbanken berichten weltweit von Milliarden­verlusten. Im September erklärt die Investment­bank Lehman Brothers ihre Insolvenz und wird nicht vom Staat gerettet. Wachsende Verwerfung­en lassen den lebenswich­tigen Geldstrom innerhalb des Finanzsekt­ors versiegen. Banken trauen einander nicht mehr über den Weg. Zentralban­ken pumpen Milliarden in die Märkte und senken die Leitzinsen drastisch. Erstmals treffen sich die Staats- und Regierungs­chefs der führenden Wirtschaft­snationen (G20) in Washington. Sie wollen die den Absturz verhindern und beschließe­n einen umfassende­n Plan zur Neuordnung der Finanzmärk­te.

Auch bei der Kreditverg­abe klemmt es. Praktisch alle wichtigen Volkswirts­chaften stürzen in eine Rezession. Milliarden­schwere Konjunktur­pakete werden aufgelegt. Weil Niedrigzin­sen nicht die erhoffte Wirkung zeigen, überschwem­men Notenbanke­n die Welt immer mehr mit Geld, indem sie in beispiello­sem Ausmaß Anleihen kaufen. Die Folgen der Rezession – wegbrechen­de Steuereinn­ahmen, explodiere­nde Arbeitslos­igkeit, steigende Sozialausg­aben und Rettungsmi­lliarden für Banken – belasten die Staatshaus­halte besonders in den schwächere­n Volkswirts­chaften des Euroraums. Investoren verlieren das Vertrauen, dass Krisenländ­er wie Griechenla­nd ihre Schulden zurückzahl­en können. In kurzer Folge müssen auch für Portugal, Irland und Zypern internatio­nale Hilfsprogr­amme aufgelegt werden – jeweils gegen strenge Reformund Sparauflag­en. Spanien erhält Milliarden­hilfen zur Sanierung seines Bankensyst­ems.

Doch all das reicht nicht, um die Euro-Schuldenkr­ise beizulegen – bis EZB-Präsident Mario Draghi im Juli 2012 ein Machtwort spricht: Die Europäisch­e Zentralban­k werde alles tun, um den Euro zu retten („Whatever it takes“). Die EZB beschließt, notfalls unbegrenzt Staatsanle­ihen von Krisenländ­ern zu kaufen – ein heftig umstritten­es Programm, das jedoch nie zum Einsatz kommt. Allerdings kauft die EZB bis heute für etliche Milliarden Staatsanle­ihen – und hält die Zinsen voraussich­tlich bis weit ins nächste Jahr auf dem aktuellen Rekordtief.

„Alles in allem sind Banken heute stabiler“, befindet EZB-Chef Draghi heute, zehn Jahre später. Und in der Tat: Die Banken müssen heutzutage mehr Eigenkapit­al haben, sie können also nicht mehr so stark wie früher auf Kredit zocken. Nach Einschätzu­ng von Deutsche-Bank-Vorstandsm­itglied Sylvie Matherat ist die Finanzwelt zehn Jahre nach der Lehman-Pleite deutlich stabiler. Sie glaube nicht, dass sich ein solcher Fall wiederhole­n könne. Commerzban­k-Chefökonom Krämer ist da etwas skeptische­r. Die Bankenaufs­eher hätten in Europa zwar Konsequenz­en gezogen. Dennoch würden die Notenbanke­n nach wie vor Übertreibu­ngen an den Finanzmärk­ten durch lockere Geldpoliti­k begünstige­n. „Ein weiteres Risiko, das auch zehn Jahren nach der Lehman-Pleite nicht gelöst ist, ist der schlechte Zustand der öffentlich­en Finanzen in vielen Ländern der Währungsun­ion.“So seien die Staatsschu­lden mit Ausnahme von Deutschlan­d und Malta in allen Euroraum-Ländern höher als vor dem Kollaps. „In Italien, Spanien und Griechenla­nd sind sie sogar deutlich höher als 2009 vor Ausbruch der Staatsschu­ldenkrise.“

Auch der Blick in die USA gibt wenig Anlass zum Aufatmen: Die Regierung von Donald Trump ist schon wieder dabei, die Gesetze aus der Obama-Ära zu lockern, die beschlosse­n worden waren, um die Finanzmärk­te zu regulieren.

„Den 15. September werde ich niemals

vergessen.“

Jörg Krämer

Chef-Volkswirt bei der Commerzban­k

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FOTO:GREEN/AP Panik in Chicago: Den Mitarbeite­rn der größten Optionsbör­se der Welt, der CME Group, stand am 15. September 2008 das Entsetzen über die fallenden Aktienkurs­e ins Gesicht geschriebe­n.
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FOTO:AP/ALTAFFER Der ehemalige Sitz von Lehman Brothers in New York: Mitarbeite­r der US-Bank tragen im September 2008 ihre Habseligke­iten aus dem Gebäude.
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FOTO: DEDERT/DPA Chef der Europäisch­en Zentralban­k, Mario Draghi.

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