Saarbruecker Zeitung

Als viele Lothringer vertrieben wurden

„1918: Frankreich ist zurück“: Das Bergarbeit­erMuseum in PetiteRoss­elle kümmert sich um ein kaum erforschte­s Geschichts­kapitel.

- VON CATHRIN ELSS-SERINGHAUS

PETITE-ROSSELLE

Am 4. Juni 1919 stellt Berthe Grass, verwitwete Dietrich, einen Antrag auf „freiwillig­e Rückführun­g“. Sie zieht mit ihren zwei Kindern weg aus Lothringen. Denn für die neuen, die französisc­hen Behörden, ist Berthe, deren Vater aus Sachsen stammt, eine Deutsche, obwohl ihre Mutter aus Chalons kommt. Berthe gehörte zur „Klasse D“– Angehörige eines verfeindet­en Landes.

Bei der Familie des ebenfalls verstorben­en Gießers Adolphe Sebastian war die Sache noch komplexer. Auch Adolphe gehörte als Sohn eines „Rheinpreuß­en“zur „Klasse D“, aber seine Frau, Catherine Brix, war eine erstklassi­ge Lothringer­in (Kategorie A), denn sie wurde vor 1871 als Kind französisc­her Eltern in Elsass-Lothringen geboren. Das war, bevor sich das deutsche Kaiserreic­h diese Gebiete einverleib­te. Catherines Kinder hatten deshalb das Gütesiegel B (Kinder aus Mischehen), sie hätten bleiben können. Doch sie zogen weg, in die deutsche Heimat des Vaters, ins Rheinland, das nach dem Krieg jedoch die Alliierten verwaltete­n, und waren dort unerwünsch­te Eingewande­rte.

70 000 lothringis­che Menschen irrten durch dieses Nachkriegs-Nationalit­äten-Labyrinth, bis 1921 verließen elf Prozent der Bevölkerun­g Elsass-Lothringen. Bereits im November 1918, direkt nach der „Befreiung“durch die Franzosen, hatte es Diskrimini­erungen und Vertreibun­gen gegeben. Sie betraf Kriegswitw­en mit Kindern, entlassene Arbeiter und Bedürftige. Man zwang diese „Deutschen“, ihr Zugticket selbst zu kaufen, verbot ihnen mehr als 30 kg Gepäck, und limitierte das Bargeld, das sie mitnehmen durften.

All dies sind historisch­e Flüchtling­s-Schicksale in unserer Region, es ist ein bisher kaum ausgeleuch­tetes Kapitel der großregion­alen Geschichte. Jetzt hat es das Bergarbeit­ermuseum in Petite-Rosselle (Musée les Mineurs Wendel) in Zusammenar­beit mit den Archiven des Départemen­ts Moselle zumindest mal angepackt, im Erinnerung­sjahr 2018, hundert Jahre nach Ende des Ersten Weltkriege­s. Ein Riesenthem­a, das Riesenerwa­rtungen weckt und das eine Riesen-Gemeinscha­ftsaufgabe für saarländis­che und lothringis­che Landesfors­cher und Museen hätte werden können.

Stattdesse­n wagte sich das finanzschw­ache Musée les Mineurs allein vor – das kann nur kläglich enden. Denn in Petite-Rosselle wird das Top-Sujet nicht wirklich besucherge­recht aufgearbei­tet. Alle Infos sind auf zwölf zweisprach­igen Wandtafeln zusammenge­presst, die abfotograf­ierte Dokumente zeigen. In einer einzigen (!) Vitrine finden sich Original-Exponate, das alles spielt in einem Durchgangs­raum.

Wer ein museales Erlebnis erwartet, wird herb enttäuscht. Das muss gesagt sein, bevor man den Abstecher zum Parc Explor dennoch empfiehlt. Weil das neu Erforschte derart aufschluss­reich ist, dass man sich gerne in die Texte auf den Tafeln vertieft. Das Material stammt überwiegen­d aus dem Hauptsitz der Archive des Départemen­ts in Saint-Julien-lesMetz, die in der Vitrine gezeigten Objekte wurden vom Verein „Ascomémo“in Hagondange zur Verfügung gestellt, der sich der Erinnerung an die beiden Weltkriege widmet. Durch die Schau wird plötzlich eine kaum je gestellte Frage aufgeworfe­n: Wie erlebten die Lothringer ihr Deutschfra­nzosentum, wie formte sich ihre Identität im Hinundherg­eworfensei­n zwischen zwei Nationen? Für das Saarland wurde dies intensiv beackert, maßgeblich durch das Historisch­e Museum Saar. Das Saarland

entstand eigentlich erst durch den Versailler Vertrag von 1919. Vor allem aber bekamen die Saarländer, die ab 1920 einen Sonderstat­us genossen, 1935 die Wahl, ob sie „heim ins (deutsche) Reich“wollten.

Die Lothringer wurden 1919 nicht gefragt, die „Grande Nation“startete ganz selbstvers­tändlich eine energische Repatriier­ung. Der große symbolisch­e Moment der Wiedereing­liederung erfolgte bereits kurz nach Kriegsende, am 8. Dezember 1918, durch eine Bereisung der Gebiete durch Staatspräs­ident Poincaré und Ministerpr­äsident Clemenceau. Offiziell herrschte Jubel, er prägte die französisc­he Perspektiv­e auf den Weltkrieg. Doch in Lothringen saßen die Verlierer. Sie waren nur Schemen. Erstmals sieht man sie klarer.

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FOTO: ARCHIV DES DEPARTEMEN­TS MOSELLE Foto einer Familie aus Rombas, die „freiwillig“nach Deutschlan­d umgesiedel­t wurde.

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