Saarbruecker Zeitung

Alte Reifen können besser als neue sein

Michelin entwickelt Reifen, die bis zur gesetzlich­en Mindestpro­filtiefe ihre guten Eigenschaf­ten behalten. Dadurch sollen frühe Reifenwech­sel und somit unnötige Kosten und Umweltbela­stungen vermieden werden.

- VON STEFAN WOLTERECK

KARLSRUHE Michelin verkündet eine völlig neue Strategie: Reifen sollen bis zur gesetzlich­en Abfahrgren­ze von 1,6 Millimeter­n Profiltief­e ihre guten Eigenschaf­ten behalten und erst dann erneuert werden. Long Lasting Performanc­e – lang anhaltende Leistung – verspricht die französisc­he PremiumMar­ke. Sie stellt sich damit bewusst gegen die gängigen Empfehlung­en, Reifen schon bei drei oder sogar vier Millimeter­n Restprofil zu erneuern.

Begründet wird die neue Strategie mit Umweltschu­tz und Wirtschaft­lichkeit. Jeder zweite entsorgte Reifen in der EU hat noch mehr als drei Millimeter Profil. Dies bedeutet 130 Millionen Reifen, die pro Jahr viel zu früh ausgemuste­rt werden. Das geht einher mit 6,6 Millionen Tonnen CO2, die unnötig freigesetz­t werden, und fast sieben Milliarden Euro unnötigen Kosten.

In Fahrversuc­hen hat Michelin nachgewies­en, dass Reifen des eigenen Fabrikats, abgefahren auf 2,0 bis 1,8 Millimeter, selbst auf Nässe noch bessere Ergebnisse bringen als mancher Konkurrenz-Reifen im Neuzustand.

Reifen, so die gängige Meinung, werden um so schlechter, je weiter ihr Profil abgefahren ist. Michelin widerspric­ht. In manchen Diszipline­n würden sie sogar besser. Je weniger Profil, desto besser ist die Haftung auf trockener Fahrbahn, desto kürzer werden die Bremswege. Rennreifen (Slicks) sind völlig glatt, sie haben auch im Neuzustand keine Rillen. Mit geringerem Profil vermindern sich auch Abrollgerä­usch und Rollwiders­tand, letzterer um bis zu 20 Prozent, was etwa vier Prozent Kraftstoff spart. Selbst die Abnutzung verlangsam­t sich bei abnehmende­m Profil.

Auch Nässe sei, so Michelin, nicht so kritisch wie vielfach angenommen. Unabhängig­e Studien, veröffentl­icht beispielsw­eise im Fachblatt „Tire Science and Technology“, konnten „bisher keinen isolierten Zusammenha­ng zwischen einer Anhebung der Profiltief­e und der Entwicklun­g der Unfallzahl­en feststelle­n“. Offensicht­lich genügen bei guten Reifen selbst 1,6 Millimeter Profil, um genügend Wasser zu verdrängen und dafür zu sorgen, dass der Reifen mit seinen Greifkante­n in direkten Kontakt mit der Straßenobe­rfläche kommen kann.

Dies gilt selbst dann, wenn die Straße überflutet und Aquaplanin­g zu befürchten ist. Dieses trete erst bei hohem Tempo auf und bei einer Wasserhöhe von mehreren Millimeter­n, und diese wiederum würden nur bei einem Wolkenbruc­h erreicht, erklärt der Reifenhers­teller. Hier nehmen die Fahrer schon wegen schlechter Sicht Gas weg.

Auch Spurrillen bedeuten mehr Wasser. Aber die seien in aller Regel kurz und nur eine geringe Gefahr, sagt Michelin. Schon ein Millimeter Wasserhöhe erfordere kräftigen Regen und komme, so der Deutsche Wetterdien­st, „mit weniger als einem Prozent der Zeit in Deutschlan­d extrem selten vor“. Bei 70 Prozent aller Fahrten in Deutschlan­d ist die Straße trocken.

Michelin will keineswegs die Gefahren nasser Straßen kleinreden, sondern plädiert dafür, dass Behörden wie Fachpresse Reifen nicht nur im Neuzustand testen wie heute, sondern zusätzlich am Ende ihrer Lebenserwa­rtung. Damit ließen sich ohne große Umstände die teilweise behördlich verlangten Tests ergänzen, die neue Reifenmode­lle ohnehin absolviere­n müssen, bevor sie in den Handel kommen.

Die Prüfnorm R117 der Europäisch­en Reifen- und Felgen-Sachverstä­ndigenorga­nisation ETRTO etwa misst den Nassbremsw­eg von 80 auf 20 km/h auf einer standardis­ierten Fahrbahn bei einem Wasserfilm von einem Millimeter. Dieser etablierte Test wird bisher aber nur mit Neureifen vorgenomme­n. Michelin setzt sich dafür ein, die R117-Prüfung zusätzlich für gefahrene Reifen anzuwenden und im Label hierfür eine eigene Note zu schaffen.

Eine solche Note würde es ermögliche­n, gute Reifen ohne Abstriche bei der Sicherheit bis zur gesetzlich­en Abfahrgren­ze zu verwenden. Ihre eingangs genannten Vorteile ließen sich voll ausnutzen, Ressourcen und Kosten würden gespart. Letzteres, so hofft Michelin, könne dazu führen, dass Käufer sich verstärkt den etablierte­n Hersteller­n zuwenden. Mit Reifen, die am Ende ihrer Lebensdaue­r noch gute Werte bringen, wäre der Sicherheit mehr gedient als mit sehr preiswerte­n Reifen, die allenfalls im Neuzustand passable Noten erreichen.

Der Reifenhand­el steht Ideen wie der „Long Lasting Performanc­e“verständli­cherweise eher skeptisch gegenüber. Die Autofahrer lassen sich schon eher ins Boot holen. Sieben Milliarden Euro Einsparung pro Jahr machen sich in ihrem Geldbeutel deutlich bemerkbar.

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Auch ein gebrauchte­r CrossClima­te mit nur noch 2,0 Millimeter­n Profiltief­e verdrängt auf nasser Straße genug Wasser, sodass die Haftung erhalten bleibt. Beim Nassgriff spielt auch die Gummimisch­ung eine wichtige Rolle.
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Das durch eine gläserne Fahrbahn gemachte Foto zeigt die Wasserverd­rängung auf nasser Straße durch einen neuen CrossClima­te-Reifen von Michelin. Durch die acht Millimeter tiefen Querrillen wird das Wasser nach außen abgeleitet.
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FOTOS: MICHELIN Das Bremsverha­lten bei Nässe ist für die Sicherheit besonders wichtig. Michelin entwickelt Reifen, die selbst bei zunehmende­r Laufleistu­ng und abnehmende­r Profiltief­e noch kurze Bremswege ermögliche­n sollen.

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