Alte Reifen können besser als neue sein
Michelin entwickelt Reifen, die bis zur gesetzlichen Mindestprofiltiefe ihre guten Eigenschaften behalten. Dadurch sollen frühe Reifenwechsel und somit unnötige Kosten und Umweltbelastungen vermieden werden.
KARLSRUHE Michelin verkündet eine völlig neue Strategie: Reifen sollen bis zur gesetzlichen Abfahrgrenze von 1,6 Millimetern Profiltiefe ihre guten Eigenschaften behalten und erst dann erneuert werden. Long Lasting Performance – lang anhaltende Leistung – verspricht die französische PremiumMarke. Sie stellt sich damit bewusst gegen die gängigen Empfehlungen, Reifen schon bei drei oder sogar vier Millimetern Restprofil zu erneuern.
Begründet wird die neue Strategie mit Umweltschutz und Wirtschaftlichkeit. Jeder zweite entsorgte Reifen in der EU hat noch mehr als drei Millimeter Profil. Dies bedeutet 130 Millionen Reifen, die pro Jahr viel zu früh ausgemustert werden. Das geht einher mit 6,6 Millionen Tonnen CO2, die unnötig freigesetzt werden, und fast sieben Milliarden Euro unnötigen Kosten.
In Fahrversuchen hat Michelin nachgewiesen, dass Reifen des eigenen Fabrikats, abgefahren auf 2,0 bis 1,8 Millimeter, selbst auf Nässe noch bessere Ergebnisse bringen als mancher Konkurrenz-Reifen im Neuzustand.
Reifen, so die gängige Meinung, werden um so schlechter, je weiter ihr Profil abgefahren ist. Michelin widerspricht. In manchen Disziplinen würden sie sogar besser. Je weniger Profil, desto besser ist die Haftung auf trockener Fahrbahn, desto kürzer werden die Bremswege. Rennreifen (Slicks) sind völlig glatt, sie haben auch im Neuzustand keine Rillen. Mit geringerem Profil vermindern sich auch Abrollgeräusch und Rollwiderstand, letzterer um bis zu 20 Prozent, was etwa vier Prozent Kraftstoff spart. Selbst die Abnutzung verlangsamt sich bei abnehmendem Profil.
Auch Nässe sei, so Michelin, nicht so kritisch wie vielfach angenommen. Unabhängige Studien, veröffentlicht beispielsweise im Fachblatt „Tire Science and Technology“, konnten „bisher keinen isolierten Zusammenhang zwischen einer Anhebung der Profiltiefe und der Entwicklung der Unfallzahlen feststellen“. Offensichtlich genügen bei guten Reifen selbst 1,6 Millimeter Profil, um genügend Wasser zu verdrängen und dafür zu sorgen, dass der Reifen mit seinen Greifkanten in direkten Kontakt mit der Straßenoberfläche kommen kann.
Dies gilt selbst dann, wenn die Straße überflutet und Aquaplaning zu befürchten ist. Dieses trete erst bei hohem Tempo auf und bei einer Wasserhöhe von mehreren Millimetern, und diese wiederum würden nur bei einem Wolkenbruch erreicht, erklärt der Reifenhersteller. Hier nehmen die Fahrer schon wegen schlechter Sicht Gas weg.
Auch Spurrillen bedeuten mehr Wasser. Aber die seien in aller Regel kurz und nur eine geringe Gefahr, sagt Michelin. Schon ein Millimeter Wasserhöhe erfordere kräftigen Regen und komme, so der Deutsche Wetterdienst, „mit weniger als einem Prozent der Zeit in Deutschland extrem selten vor“. Bei 70 Prozent aller Fahrten in Deutschland ist die Straße trocken.
Michelin will keineswegs die Gefahren nasser Straßen kleinreden, sondern plädiert dafür, dass Behörden wie Fachpresse Reifen nicht nur im Neuzustand testen wie heute, sondern zusätzlich am Ende ihrer Lebenserwartung. Damit ließen sich ohne große Umstände die teilweise behördlich verlangten Tests ergänzen, die neue Reifenmodelle ohnehin absolvieren müssen, bevor sie in den Handel kommen.
Die Prüfnorm R117 der Europäischen Reifen- und Felgen-Sachverständigenorganisation ETRTO etwa misst den Nassbremsweg von 80 auf 20 km/h auf einer standardisierten Fahrbahn bei einem Wasserfilm von einem Millimeter. Dieser etablierte Test wird bisher aber nur mit Neureifen vorgenommen. Michelin setzt sich dafür ein, die R117-Prüfung zusätzlich für gefahrene Reifen anzuwenden und im Label hierfür eine eigene Note zu schaffen.
Eine solche Note würde es ermöglichen, gute Reifen ohne Abstriche bei der Sicherheit bis zur gesetzlichen Abfahrgrenze zu verwenden. Ihre eingangs genannten Vorteile ließen sich voll ausnutzen, Ressourcen und Kosten würden gespart. Letzteres, so hofft Michelin, könne dazu führen, dass Käufer sich verstärkt den etablierten Herstellern zuwenden. Mit Reifen, die am Ende ihrer Lebensdauer noch gute Werte bringen, wäre der Sicherheit mehr gedient als mit sehr preiswerten Reifen, die allenfalls im Neuzustand passable Noten erreichen.
Der Reifenhandel steht Ideen wie der „Long Lasting Performance“verständlicherweise eher skeptisch gegenüber. Die Autofahrer lassen sich schon eher ins Boot holen. Sieben Milliarden Euro Einsparung pro Jahr machen sich in ihrem Geldbeutel deutlich bemerkbar.