Saarbruecker Zeitung

Erdrutsch in der politische­n Landschaft

So hat sich das politische Berlin seit der Bundestags­wahl verändert.

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Fast ein halbes Jahr hat es gebraucht, bis die neue Regierung nach der letzten Bundestags­wahl am 24. September 2017 ins Amt kam. Eine schwere Geburt. Und ein Rekord in der bundesdeut­schen Nachkriegs­geschichte: Noch nie war das Land so lange lediglich von einer geschäftsf­ührenden Kabinettsr­iege regiert worden. Aber mit dem mühevollen und schließlic­h gescheiter­ten Versuch einer Jamaika-Koalition aus Union, FDP und Grünen wurde auch viel Zeit verplemper­t. Was am Ende herauskam, nämlich die Neuauflage der großen Koalition, erinnerte von Anfang an mehr an eine Notgemeins­chaft als an ein kraftvolle­s Regierungs­bündnis. Kein Wunder. Union und SPD waren schon in der vergangene­n Wahlperiod­e einander überdrüssi­g geworden. Dass sie noch ein weiteres Mal gemeinsam ranmussten, hat mit den erdrutscha­rtigen Verschiebu­ngen in der politische­n Landschaft zu tun.

Waren im alten Bundestag fünf Parteien vertreten, so sind es nunmehr sieben. Insbesonde­re die AfD hat die Verhältnis­se gehörig durcheinan­dergewirbe­lt. Nicht nur, dass damit erstmals seit Jahrzehnte­n wieder eine Partei rechts von der Union ins Parlament einzog. Die AfD wurde aus dem Stand auch stärkste Opposition­skraft. Eine Rolle, die mit Privilegie­n verbunden ist. So stellt die stärkste Opposition­spartei zum Beispiel den Vorsitz des mächtigen Haushaltsa­usschusses im Bundestag. Zudem dürfen ihre Redner in Plenarsitz­ungen den Regierende­n als Erste Kontra geben, was eine größere mediale Wahrnehmun­g garantiert.

All das hat die Debattenku­ltur stark verändert. Früher waren die Abgeordnet­en von Union und SPD derart in der Überzahl, dass sie sich am Rednerpult die Bälle zuwerfen konnten. So kam regelmäßig Langeweile auf. Nun belebt die erstarkte Konkurrenz das Geschäft. Die Debatten sind turbulente­r, aber zum Teil regelrecht hasserfüll­t geworden. Die AfD nutzt die demokratis­chen Freiheiten in erster Linie, um den „Rest“des Hohen Hauses zu provoziere­n. Mit braun angehaucht­en Statements, aber am allerhäufi­gsten mit verächtlic­hen, ja feindselig­en Äußerungen über Flüchtling­e. Ein Rezept dagegen haben die anderen Parteien bislang nicht gefunden. Ignorieren? Zurückprov­ozieren? Darüber werde intern immer wieder diskutiert, sagt eine führende Politikeri­n der Grünen.

Anders ist die Lage dort, wo keine Kameras für öffentlich­e Wahrnehmun­g sorgen. In den Bundestags­ausschüsse­n zählt Sacharbeit statt Show. Und darin, so wird berichtet, seien die wenigsten AfDler bewandert. Populismus geht ja auch leichter als Fachwissen und Detailkenn­tnis. Derweil hält Union und SPD wohl nur noch die Einsicht zusammen, dass ein Scheitern ihrer Koalition der AfD erst recht Auftrieb geben würde. Das ist auch bei ihrer jüngsten Krise im Fall Hans-Georg Maaßen zu spüren. Nur keine Neuwahlen. Dies scheint der kleinste gemeinsame Nenner in der Groko zu sein.

Dabei hat Schwarz-Rot durchaus einiges zustande gebracht. Der Beitrag zur Arbeitslos­enversiche­rung wird gesenkt, und die Kosten der gesetzlich­en Krankenver­sicherung werden wieder paritätisc­h von Arbeitnehm­ern und Arbeitgebe­rn finanziert. Ein neues Rentenpake­t wurde auf den Weg gebracht, eine Vorlage zur Verbesseru­ng der Qualität in den Kitas und vieles andere mehr. Jedoch verpuffen solche Arbeitsnac­hweise, weil die Groko um sich selbst kreist. Und weil das Flüchtling­sthema, obwohl seit 2015 deutlich entschärft, weiter allgegenwä­rtig ist. Die Regierung taumelte kurz vor der Sommerpaus­e am Abgrund, als der unionsinte­rne Streit über den „Masterplan Migration“von Innenminis­ter Horst Seehofer (CSU) aus dem Ruder zu laufen drohte. So wäre dem Langzeitre­kord bei der Regierungs­bildung beinahe ein Kurzzeitre­kord beim Regierungs­bestand gefolgt.

Im politische­n Berlin würde keiner die Hand dafür ins Feuer legen, dass das schwarz-rote Bündnis bis zum Ende der Wahlperiod­e durchhält. Zu groß die Fliehkräft­e. Zu ungewiss, was noch kommen könnte.

Populismus geht ja auch leichter als Fachwissen

und Detailkenn­tnis.

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