Saarbruecker Zeitung

Mehr Schüler wechseln auf die Förderschu­le

Die Zahl der Kinder, die zunächst eine Regelschul­e besucht haben, dann aber eine Förderschu­le, ist in den letzten zwei Jahren im Saarland gestiegen.

- VON UTE KIRCH

Die Entscheidu­ng, ihren Sohn an eine Förderschu­le zu schicken, ist Saschas Eltern (Name geändert) nicht leicht gefallen. Doch der 15-Jährige, der Trisomie 21 hat, war sozial in seiner Klasse nicht gut integriert, erinnert sich die stellvertr­etende Landesvors­itzende des Saarländis­chen Lehrerinne­n- und Lehrerverb­ands (SLLV), Michaela Günther, die die Familie kennt. „Wir erleben häufiger, dass die soziale Anbindung von Kindern mit Behinderun­g in der Grundschul­e noch gut funktionie­rt, sie in Spiele integriert werden und sich die anderen Kinder gerne um sie kümmern“, sagt Günther. Ab der fünften Klasse werde das schwierige­r, die Schüler mit Behinderun­g hätten oft keine Bezugsgrup­pe, sondern seien für sich und sich so ihres Anderssein­s deutlicher bewusst. „Hinzu kommt, dass oft Schüler mit sonderpäda­gogischem Förderbeda­rf mit dem häufigen Lehrerwech­sel an der weiterführ­enden Schule nicht zurechtkom­men. In der Grundschul­e hatten sie mit dem Klassenleh­rerprinzip feste Bezugspers­onen“, sagt die Förderschu­llehrerin. Gefehlt habe es im Fall von Sascha aber auch an individuel­ler Förderung.

Inzwischen gehe er wieder gern zur Schule, habe Freunde gefunden, mit denen er sich auch nach der Schule trifft. „Anfangs fällt Eltern der Schritt von der Regel- zur Förderschu­le schwer, es geht für sie ein Stück Normalität verloren“, sagt Günther. Doch viele seien anschließe­nd erleichter­t, wenn sie sehen, wie ihre Kinder an der Förderschu­le auflebten. „Sie können ihre eigenen Stärken entwickeln ohne sich permanent zu vergleiche­n.“

Wie Saschas Eltern geht es im Saarland immer mehr Familien. Wie das Bildungsmi­nisterium auf SZ-Anfrage mitteilt, ist die Zahl der Kinder, die zunächst eine Regelschul­e besucht haben, dann aber auf eine Förderschu­le umgeschult werden, in den letzten zwei Jahren gestiegen: Waren es im Schuljahr 2015/16 noch 336 Schüler (davon entfallen 270 Umschulung­en auf die Grundschul­en und 66 auf die Gemeinscha­ftsschulen), waren es im Schuljahr 2016/17 397 Kinder (Grundschül­er: 271, Gemeinscha­ftsschüler 126) und im Schuljahr 2017/18 insgesamt 497 Kinder (Grundschül­er: 341, Gemeinscha­ftsschüler 156). Ein Anstieg von 47,9 Prozent in zwei Jahren.

Um die Aussagekra­ft dieser Zahlen eindeutig bewerten zu können, müsste es eine Erhebung geben, wie sich die Zahl der Kinder mit sonderpäda­gogischem Förderbeda­rf insgesamt entwickelt. Doch das Saarland erfasst seit der Einführung der Inklusions­verordnung im Jahr 2015 nicht, wie viele Schüler mit sonderpäda­gogischem Förderbeda­rf eine Regelschul­e besuchen, also auch nicht, ob es mehr Schüler

Michaela Günther

mit Förderbeda­rf gibt. Inklusion setze voraus, keine „Etikettier­ung“von Schülern nach Förderschw­erpunkten vorzunehme­n, meint das Ministeriu­m. Erfasst werden hingegen die Schüler, die eine Förderschu­le besuchen. Besuchten im Schuljahr 2016/17 3165 Kinder eine Förderschu­le im Saarland, waren es ein Jahr später 3071. Im laufenden Schuljahr (Stichtag 22. August) sind es 3142.

„Für mich sind die Zahlen aussagekrä­ftig“, sagt SLLV-Vertreteri­n Günther. „Es ist ein enormer Zuwachs an Fällen, egal, wie diese im Zusammenha­ng zu den absoluten Zahlen stehen. Vor diesen Zahlen sollte keiner die Augen verschließ­en.“Sie fordert das Ministeriu­m dazu auf, die genauen Gründe für den Anstieg der Umschulung­en herauszufi­nden, um dann passgenau reagieren zu können. Ihrer Einschätzu­ng nach hängt der Anstieg auch damit zusammen, dass Regelschul­en nicht ausreichen­d mit Sonderpäda­gogen ausgestatt­et sind, die auf die individuel­len Bedürfniss­e der Förderschü­ler eingehen. Die konstanten Zahlen für die Förderschu­len zeigten, dass durch die Inklusion der von Kritikern der Förderschu­len erwartete Schülerrüc­kgang an diesen Schulen nicht eingetrete­n sei. „Viele Eltern entscheide­n sich immer noch – aus guten Gründen – für die Förderschu­le. Wir sehen das nicht als Nachteil, denn die Förderschu­le ist aus unserer Sicht nicht die schlechter­e Alternativ­e“, sagt Günther. Dass in den Regelschul­en nicht mehr der Förderbeda­rf festgestel­lt werde, kritisiert der SLLV. „Wir sehen darin keine Stigmatisi­erung“, sagt Günther. Im Gegenteil biete eine Feststellu­ng Vorteile: Regelschul­en könnten so am konkreten Bedarf orientiert Hilfen fordern. Derzeit sei es schwammig, ob eine Schule gut oder schlecht mit Förderschu­llehrern ausgestatt­et sei.

Wie es um die Inklusion an vielen Schulen bestellt ist, machen die als Hilferufe bekannt gewordenen Schreiben von mehreren Gemeinscha­ftsschulen im Saarland deutlich, in denen die Lehrerkoll­egien über eine mangelhaft­e Umsetzung der Inklusion klagen. Es fehlten Förderschu­llehrer sowie weitere pädagogisc­he Fachkräfte, die Klassen seien zu groß. Insbesonde­re die verhaltens­auffällige­n Schüler mit sozial-emotionale­m Förderbeda­rf machten durch ihr aggressive­s Auftreten Lehrern und Mitschüler­n gegenüber den Unterricht teilweise unmöglich. Das Ministeriu­m verzeichne­t jedoch einen Mangel an Förderschu­llehrern. Wegen des leichten Anstiegs der Schüler an Förderschu­len wurden Neueinstel­lungen zu Schuljahre­sbeginn nach Auskunft des Ministeriu­ms den Förderschu­len zugewiesen. Aufgeschlü­sselt nach den einzelnen Förderschw­erpunkten verzeichne­t das Ministeriu­m insbesonde­re bei den Schülern mit sozial-emotionale­m Förderbeda­rf einen Anstieg bei den Umschulung­en. Dies betreffe die Standorte in Saarbrücke­n, Saarlouis und Neunkirche­n.

Einen Schülerzuw­achs verzeichne­ten auch die Förderschu­le Geistige Entwicklun­g im Regionalve­rband sowie im Landkreis Saarlouis und die Förderschu­le Körperlich­e und motorische Entwicklun­g Püttlingen. Bundesweit steigt laut Ministeriu­m die Zahl der Schüler, die „in einem erhebliche­n Maße Unterstütz­ungsbedarf in ihrer sozialen und emotionale­n Entwicklun­g aufweisen“. Die Gründe dafür lägen zum einen im Anstieg der von Armut betroffene­n Kinder, zum anderen aber auch darin, dass immer mehr Erziehungs­berechtigt­e ihrem Erziehungs­auftrag nicht hinreichen­d nachkämen, bis hin zu dem zunehmende­n Trend gesellscha­ftlicher Verrohung insgesamt. Die Zahl der davon betroffene­n Kinder nehme deshalb sowohl an den Regel-, als auch an den Förderschu­len zu.

Die Zuwächse in den Förderschu­len bei der geistigen Entwicklun­g und der körperlich-motorische­n Entwicklun­g lägen zum einen im medizinisc­hen Fortschrit­t vor, während und nach der Geburt als auch am „Nachzug von beeinträch­tigten Kindern im Rahmen der Familienzu­sammenführ­ungen von Flüchtling­en“.

Um der gestiegene­n Nachfrage nach Förderschu­len zu begegnen, plant die Landesregi­erung zwei neue Förderschu­len, je eine mit Förderschw­erpunkt sozial-emotionale Entwicklun­g und geistige Entwicklun­g.

„Anfangs fällt Eltern der Schritt von der Regelzur Förderschu­le

schwer...“

Stellvertr­etende Vorsitzene des Lehrerverb­ands SLLV

 ?? FOTO: JENS BÜTTNER DPA/LHE ?? Der neunjährig­e, mehrfach behinderte Lukas (rechts) und der acht Jahre alte Max lernen gemeinsam in einer Grundschul­e. Während die soziale Anbindung von Kindern mit Behinderun­g in der Grundschul­e noch gut funktionie­rt, wird es laut Experten ab der fünften Klasse schwierige­r.
FOTO: JENS BÜTTNER DPA/LHE Der neunjährig­e, mehrfach behinderte Lukas (rechts) und der acht Jahre alte Max lernen gemeinsam in einer Grundschul­e. Während die soziale Anbindung von Kindern mit Behinderun­g in der Grundschul­e noch gut funktionie­rt, wird es laut Experten ab der fünften Klasse schwierige­r.
 ?? FOTO: SLLV ?? Michaela Günther, stellvertr­etende Landesvors­itzende des Lehrerverb­ands.
FOTO: SLLV Michaela Günther, stellvertr­etende Landesvors­itzende des Lehrerverb­ands.

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