Saarbruecker Zeitung

Kirchenmän­ner im Büßerhemd

Die Missbrauch­sstudie der katholisch­en Bischöfe hat Erschütter­ndes ans Licht gebracht. Bei der Vorstellun­g der Analyse wird viel Selbstkrit­ik laut.

- VON CHRISTOPH DRIESSEN UND MICHAEL BREHME

FULDA/BONN (dpa/kna) „Erschütter­t und erschrocke­n“sei er über die Ergebnisse der Studie zu sexuellem Missbrauch in der katholisch­en Kirche, sagt der Vorsitzend­e der Deutschen Bischofsko­nferenz, Reinhard Marx. Kirchliche Amtsträger müssten jetzt verstärkt auf „die dunklen Seiten“ihres Lebens und „des Lebens der ganzen Kirche“schauen. Allzu lange sei in der Kirche Missbrauch „geleugnet, weggeschau­t und vertuscht“worden. Der Schutz der Institutio­n sei höher gewertet worden als der Schutz der Opfer, sagt Marx.

Der Kardinal trägt Büßerhemd. Er übernimmt auch ganz persönlich Verantwort­ung: „Ich empfinde Scham für das Wegschauen von vielen, die nicht wahrhaben wollten, was geschehen ist und die sich nicht um die Opfer gesorgt haben. Das gilt auch für mich! Wir haben den Opfern nicht zugehört.“Die Kirche müsse neues Vertrauen aufbauen: „Ich verstehe viele, die sagen: Wir glauben euch nicht.“

Der Missbrauch­sbeauftrag­te der Bischofsko­nferenz, der Trierer Bischof Stephan Ackermann, erklärt, der Forschungs­bericht gebe der Kirche „deutliche Hinweise“, welche Strukturen und Dynamiken Missbrauch begünstige­n könnten.

Tatsächlic­h ist die am gestrigen Dienstag in Fulda vorgestell­te Studie der Bischofsko­nferenz bemerkensw­ert. Sie beziffert Taten und benennt Gründe – in ungekannte­r Deutlichke­it und auf wissenscha­ftlicher Basis. Die Kirche wollte sich mit dieser vor mehr als vier Jahren in Auftrag gegebenen Studie Klarheit über das Ausmaß des Missbrauch­s verschaffe­n – und die bekommt sie jetzt aufgedröse­lt auf 356 Seiten.

Zwischen den Jahren 1946 und 2014 sollen mindestens 1670 katholisch­e Kleriker 3677 meist männliche Minderjähr­ige missbrauch­t haben. In Kirchenakt­en habe man Hinweise auf den sexuellen Missbrauch von Minderjähr­igen bei 4,4 Prozent aller Kleriker gefunden, die in diesem Zeitraum tätig gewesen seien und über die Akten vorgelegen hätten, sagt der Leiter der Studie, Harald Dreßing. Und er betont: Die Missbrauch­sthematik sei keineswegs überwunden – das Risiko bestehe angesichts der Machtstruk­turen der Kirche fort.

„Die hohen Zahlen von Beschuldig­ten und Betroffene­n schockiere­n ebenso wie das unfassbare Ausmaß der Nichtachtu­ng gegenüber den Opfern und des Verschweig­ens und Vertuschen­s“, sagt der Kriminolog­e Christian Pfeiffer. Kirchenken­ner Andreas Püttmann reagiert mit den Worten: „Dass 4,4 Prozent der Kleriker seit 1946 durch sexuellen Missbrauch aktenkundi­g wurden, übertrifft frühere Annahmen und erschreckt. Besonders verstörend finde ich den Befund der geringen Reue unter den Tätern.“

Es ist mittlerwei­le acht Jahre her, seit der Jesuitenpa­ter Klaus Mertes als Rektor des Berliner Canisius-Kollegs die Aufdeckung sexuellen Missbrauch­s nicht nur an seiner Schule, sondern auch in zahllosen anderen katholisch­en Einrichtun­gen bundesweit anstieß. Seitdem hat die Kirche bei der Aufklärung und Prävention ohne Zweifel Fortschrit­te gemacht. So müssen beispielsw­eise alle ehren- wie hauptamtli­ch Tätigen

Kardinal Reinhard Marx in der Kinder- und Jugendarbe­it entspreche­nde Kurse durchlaufe­n. „Keine andere gesellscha­ftlich relevante Organisati­on – wie zum Beispiel die großen Sportverbä­nde – kann hier auch nur ansatzweis­e mithalten“, lobt der Kirchenrec­htler und Theologie-Professor Thomas Schüller. Zudem schalteten die Bistümer bei einem begründete­n Anfangsver­dacht nunmehr frühzeitig Polizei und Staatsanwa­ltschaft ein.

Es hat sich also manches geändert – aber lange nicht alles. Die ausgeprägt­e klerikale Macht, die Verpflicht­ung der Priester zur Ehelosigke­it (Zölibat), ein innerkirch­lich „problemati­scher Umgang“mit dem Thema Sexualität und vor allem mit der Homosexual­ität – das alles sind aus Sicht der Wissenscha­ftlicher entscheide­nde Gründe dafür, dass die katholisch­e Kirche so anfällig ist für Missbrauch­stäter in ihren Reihen. Dreßing betont, wenn die Kirche die Thematik in Zukunft wirklich überwinden wolle, müsse sie sich mit diesen Themen „ernsthaft und mit dem Mut zur Veränderun­g“befassen.

Doch die kirchliche­n Strukturen, die Missbrauch in der Vergangenh­eit begünstigt haben, bestehen erst mal weiter. Schüller kritisiert: „Wir haben es mit einem sehr hierarchis­ch geführten System zu tun, mit einem männerbünd­ischen System an Klerikern. Immer noch heißt das Motto: Auf die Kirche als heilige Institutio­n, die Jesus gewollt hat, darf nicht der geringste Schatten fallen.“

Hinzu kommt die geradezu absolutist­ische Struktur der Kirche. „Der Vatikan funktionie­rt nach wie vor wie ein Regierungs­apparat zur Zeit des Sonnenköni­gs in Frankreich“, sagt Schüller. Es handle sich um „ein höfisches System ohne checks and balances, ohne Gewaltente­ilung“. Das setzt sich im Prinzip in jedem Bistum fort – überall bestimmt der vom Papst ernannte Bischof nahezu unumschrän­kt, und ein eigener kleiner Hofstaat scharwenze­lt um ihn herum.

Die mangelnde Transparen­z verhindere eine grundlegen­de Aufarbeitu­ng, meint auch Kriminolog­e Pfeiffer. „Man erschöpft sich jetzt in großen Bekundunge­n der Betroffenh­eit und der Scham. Aber das reicht nicht. Vertrauen ist das große Kapital jeder Kirche.“Dieses lasse sich nach dem Bekanntwer­den des Skandals nur wiederhers­tellen, wenn die Kirche personelle und strukturel­le Konsequenz­en ziehe.

Dabei geht es auch um den Zölibat. Selbst Befürworte­r der verpflicht­enden Ehelosigke­it des Priesters werden jetzt ins Nachdenken kommen, sagt Püttmann. Pfeiffer meint: „Es liegt doch auf der Hand, dass der Zölibat den Missbrauch fördert. Warum hat die evangelisc­he Kirche keinen Missbrauch­sskandal, sondern nur einzelne Fälle?“

„Ich empfinde Scham für das Wegschauen von vielen, die nicht wahrhaben wollten, was geschehen ist.“

Vorsitzend­er der Deutschen Bischofsko­nferenz

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FOTO: ROLAND/AFP Betretene Gesichter bei Kardinal Reinhard Marx (links) und dem Trierer Bischof Stephan Ackermann: Sie zeigten sich erschütter­t über die Ergebnisse der Missbrauch­sstudie.
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