Saarbruecker Zeitung

Die saarländis­che Polizei wird immer weiblicher

Diese These vertritt Oskar Lafontaine seit Jahren. Denn die Interessen der Mehrheit setzten sich in der Politik nicht durch. Ein Top-Forscher und ein Demoskop erklären, was sie von der These halten.

- VON DANIEL KIRCH

(kir) In der saarländis­chen Polizei beginnen immer mehr junge Frauen die dreijährig­e Ausbildung zum Kommissar. Unter den 128 Kommissar-Anwärtern, die gestern in Illingen vereidigt wurden, liegt der Frauenante­il bei 48 Prozent. Noch vor wenigen Jahren war nur etwa jeder fünfte Anwärter, der die Ausbildung mit Studium in Göttelborn aufnahm, weiblich.

Schon seit vielen Jahren gibt sich Oskar Lafontaine nicht mehr mit dem Klein-Klein der Landespoli­tik ab. Die Grundlagen des menschlich­en Zusammenle­bens, Demokratie, Ungleichhe­it oder die Frage von Krieg und Frieden interessie­ren ihn mehr als Spiegelstr­iche in Gesetzentw­ürfen oder Einzelplän­e des Landeshaus­halts. Der studierte Physiker kann griechisch­e Denker oder Klassiker der Ökonomie ebenso referieren wie moderne Gesellscha­ftstheoret­iker. In gewisser Weise ist er, obgleich von anderen Fraktionen gerne als „Weltökonom“verspottet, der letzte Universalg­elehrte unter den 51 Abgeordnet­en.

Seit Jahren treibt Lafontaine besonders ein Thema um, das er in fast allen Interviews in der einen oder anderen Facette anspricht: Lafontaine glaubt, dass die Bundesrepu­blik keine Demokratie mehr ist. Seine These lautet: Die Demokratie ist eine Gesellscha­ftsordnung, in der sich die Interessen der Mehrheit durchsetze­n. Das sei aber bei Leiharbeit, Mindestloh­n, Sozialleis­tungen oder Renten nicht der Fall. „Ich will, dass in der repräsenta­tiven Demokratie endlich mal die Wünsche der Mehrheit der Wählerinne­n und Wähler umgesetzt werden“, sagte Lafontaine unlängst der SZ.

Es ist eine These, über die es sich nachzudenk­en lohnt, weil es plausibel erscheint, dass die Mehrheit gegen Leiharbeit und für höhere Sozialleis­tungen und Renten ist.

Wolfgang Merkel, der führende Demokratie-Forscher der Bundesrepu­blik, muss allerdings gar nicht nachdenken, als er auf Lafontaine­s These angesproch­en wird. Merkel ist Direktor der Abteilung Demokratie am Wissenscha­ftszentrum Berlin für Sozialfors­chung (WZB) und Politik-Professor an der Humboldt-Universitä­t Berlin. Er ist SPD-Mitglied, aber der Meinung, dass seine Partei nach links rücken muss. Bei vielen Fragen, sagt Merkel, empfinde er Sympathie für Oskar Lafontaine.

Dennoch fällt Merkel ein klares Urteil: „Die These ist falsch.“Demokratie sei mehr als bloße Mehrheitse­ntscheidun­gen, Merkel betet die Dimensione­n der Demokratie herunter, referiert über Volkssouve­ränität und den Rechtsstaa­t. In einer repräsenta­tiven Demokratie könne auch nicht jeder Sachentsch­eidung „eine vermutete Mehrheit“in der Bevölkerun­g zugrunde gelegt werden. Die Bürger könnten Parteien ja abwählen, wenn sie Entscheidu­ngen nicht gut fänden.

Das ist die Schwachste­lle in Lafontaine­s Theorie: Wenn die Regierunge­n tatsächlic­h konsequent die Interessen der Mehrheit ignorieren, warum bekommt die Linke bei Wahlen dann nur zehn Prozent? Darauf hat Lafontaine keine Antwort. „Warum lassen sich die Leute das alles gefallen?“, fragte er einmal in einer Kundgebung der Saar-Linken. „Das ist die Frage, die mich beschäftig­t.“

Demokratie-Forscher Merkel stellt auch infrage, dass die Mehrheit bei zentralen Fragen auf Lafontaine­s Linie ist. „Wo direkte Sachentsch­eidungen getroffen werden, würde Lafontaine aufjaulen“, sagt er. In der Schweiz gebe es bei Volksabsti­mmungen den Trend „Steuern runter und Staatsausg­aben runter“.

Nico A. Siegel weiß, was die Mehrheit der Deutschen denkt. Der Politikwis­senschaftl­er ist Geschäftsf­ührer des Instituts Infratest dimap, das regelmäßig die Meinung der Bevölkerun­g erforscht, unter anderem für die ARD. Siegel sagt, Lafontaine täusche sich, wenn er davon ausgehe, dass für seine Positionen Mehrheiten im Volk bestehen, die nur aufgrund der wirtschaft­lichen und der politische­n Eliten „nicht den Gang durchs Nadelöhr der politische­n Institutio­nen in Deutschlan­d finden“.

Der Meinungsfo­rscher zückt sein Smartphone und trägt die Ergebnisse des ZDF-„Politbarom­eters“vor. Die Mehrheit der Bevölkerun­g will die Haushaltsü­berschüsse nicht für zusätzlich­e Ausgaben verwenden, sondern für Schuldenab­bau und Steuersenk­ungen. Aber will die Mehrheit laut Lafontaine nicht höhere Sozialleis­tungen?

In fast allen sozial- und arbeitsmar­ktpolitisc­hen Fragen, erklärt Siegel, gehe es um Zielkonfli­kte. Die Deutschen hätten zwar gerne höhere Renten, seien aber gegen Steuererhö­hungen oder Rentenbeit­räge. „Die Deutschen hätten gerne einen Sozialstaa­t wie in Skandinavi­en und einen Steuerstaa­t wie in Großbritan­nien und den USA“, sagt Siegel. Heißt: Hohe Sozialausg­aben, aber niedrige Steuern. Bei diesem Dilemma entscheide sich die Mehrheit der Deutschen für eine Position, die sich auch an den Wahlurnen regelmäßig durchsetze. Lafontaine­s Beispiele seien „immer selektiv und an der Einstellun­gsoberfläc­he“, sagt der Meinungsfo­rscher.

Es wäre daher interessan­t, ein Land zu studieren, von dem Lafontaine sagt, dass sein Demokratie-Modell dort funktionie­rt. Doch dieses Land gibt es nicht. Als er in einem Interview danach gefragt wurde, fielen ihm nur „sogenannte Primitivku­lturen“ein.

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FOTO: STRATENSCH­ULTE/DPA Was die Mehrheit der Deutschen zu zentralen politische­n Fragen denkt, ist gar nicht so einfach zu ermitteln. Meinungsfo­rscher Nico A. Siegel sagt, die Deutschen wollten einen Wohlfahrts­staat wie in Skandinavi­en und einen Niedrigste­uer-Staat wie in den USA – das passt schlecht zusammen.
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FOTO: OLIVER DIETZE/ DPA Oskar Lafontaine, Vorsitzend­er der Fraktion Die Linke im Saar-Landtag
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WZB/DPA FOTO: DAVID AUSSERHOFE­R/ Professor Wolfgang Merkel, Demokratie-Forscher am Wissenscha­ftszentrum Berlin
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FOTO: DAVID AUSSERHÖFE­R/DPA Nico Siegel, Geschäftsf­ührer des Meinungsfo­rschungsin­stituts Infratest dimap

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