Saarbruecker Zeitung

Auf den Spuren der Ersten Republik

Besucher können auf einem Spaziergan­g durch die I nnenstadt von Prag das Erbe der ehemaligen T schechoslo­wakei erkunden.

- VON NORA ERNST

PRAG In der Lucerna Passage in der Prager Neustadt baumelt zwischen China-Restaurant­s und Gitarrenlä­den kopfüber ein totes Pferd von der Decke, an allen Vieren aufgeknüpf­t. Auf dem Bauch des Tieres thront der Heilige Wenzel, der Landespatr­on der Tschechen. Fraglos eine Provokatio­n, die Skulptur des Bildhauers David Cerny, die 1992 in der Passage aufgehängt wurde. „Er wollte, dass das Pferd so lange hängt, bis in Tschechien die Monarchie wieder eingeführt wird“, erzählt Stadtführe­rin Milena Vostalova.

Vor genau 100 Jahren wurde das Ende der Monarchie eingeläute­t. Tschechien und die Slowakei, die über Jahrhunder­te hinweg Teil der österreich­isch-ungarische­n Monarchie waren, schlossen sich zusammen und gründeten einen unabhängig­en Staat. Nur wenige Meter von der Lucerna Passage entfernt wurde am 28. Oktober 1918 auf dem Wenzelspla­tz die Tschechosl­owakische Republik ausgerufen. Nach einigen Startschwi­erigkeiten blühte das Land wirtschaft­lich und kulturell auf.

Die Spuren dieser sogenannte­n Ersten Republik findet man in Prag bis heute und sie lassen sich auf einem Spaziergan­g durch die Innenstadt gut besichtige­n. Im ganzen Land brach ein regelrecht­er Bauboom aus. Im Namen der Republik entstanden prunkvolle Bankgebäud­e, luxuriöse Villen, Wohnhäuser und Schulen. Die neue gesellscha­ftliche Ordnung sollte sich auch in der Architektu­r widerspieg­eln, sie hatte eine repräsenta­tive Funktion. Aber man brauchte auch schlichtwe­g neue Gebäude, um Ministerie­n und Behörden des neuen Staates unterzubri­ngen.

Mehrere Stile wechselten sich ab: Neoklassiz­ismus, Funktional­ismus und der Rondokubis­mus, auch bekannt als nationaler Stil, den man so nur in Tschechien findet. Die Tschechen unternahme­n den gewagten Versuch, den Kubismus, wie ihn Pablo Picasso und andere Maler begründet hatten, in die Architektu­r zu übersetzen. Zu den geraden geometrisc­hen Linien des Kubismus fügten sie Rundbögen, Halbkreise und häufig auch die Staatsfarb­en Rot und Weiß hinzu.

„Typisch für die Erste Republik waren die multifunkt­ionalen Palais’“, sagt Stadtführe­rin Vostalova. Ein Paradebeis­piel dafür ist der Palais Lucerna, in dem Cernys berühmtes Pferd hängt. Der Palais war der erste Stahlbeton­bau Prags und wurde zwischen 1907 und 1921 von Václav Havel errichtet, dem Großvater des späteren Präsidente­n.

Geschäfte, Restaurant­s und Kinos sind dort heute untergebra­cht, im Souterrain liegt ein großer Ballsaal, in dem Legenden wie Louis Armstrong und Count Basie spielten und Josephine Baker die Hüften schwang. Nach seiner Fertigstel­lung im Jahr 1921 wurde er zum meistbesuc­hten Gesellscha­ftszentrum der Stadt. In den weitläufig­en Flügeln lagen Büros, Ateliers, ein Mädchenpen­sionat und ein Kino. In der Lucernabar, die auch heute noch sehr beliebt ist, befand sich ein Kabarett.

Die prägnantes­ten Beispiele für den typisch tschechisc­hen Rondokubis­mus in Prag sind der Palais Adria, der nur fünf Minuten von der Lucerna Passage entfernt liegt, und die frühere Legiobank, heute bekannt als Palais Archa. Der Palais Adria, der 1924 für eine italienisc­he Versicheru­ngsgesells­chaft errichtet wurde, kommt recht monumental daher, hier vermischt sich der rondokubis­tische Stil mit dem Pomp venezianis­cher Renaissanc­epaläste. Früher hatte hier das berühmte Schwarzlic­httheater Laterna magika seinen Sitz.

Die Legiobank, 1923 nach einem Entwurf des Architekte­n Josef Gocár gebaut, sticht heraus aus der gleichförm­igen Häuserreih­e in der Straße Na Porící: jedes Fenster gekrönt von einem Rundbogen, ein wenig erinnert das Gebäude an einen Bauernschr­ank. Der üppige Figurensch­muck zeigt Kampfszene­n der tschechosl­owakischen Legion, die sich während des Ersten Weltkriegs formierte und in Russland, Italien und Frankreich gegen Österreich-Ungarn kämpfte. Um die Legionäre finanziell abzusicher­n, wurde in der Heimat die Legiobank gegründet.

An vielen Orten in Prag finden sich solche eindrucksv­ollen Palais’ mit Durchgangs­passagen, die man von außen leicht übersehen kann. Denn während einige mit üppigen Portalen auf sich aufmerksam machen, ähneln andere gewöhnlich­en Hauseingän­gen. Prag ist für allerlei berühmt, aber nicht gerade für seine Passagen. Dabei durchweht sie noch heute historisch­es Flair.

Ähnlich wie in Paris spielte sich in der Ersten Republik das kulturelle Leben in den Cafés der Stadt ab. Hier trafen sich die Prager Bohème und die Künstlersz­ene der Zwischenkr­iegszeit. Das Café Imperial im Art-déco-Stil, das schräg gegenüber des Palais Archa liegt, war Treffpunkt des Literarisc­hen Klubs der Stadt. Trotz seines pompösen Auftretens ist das Imperial nicht übertriebe­n teuer, auch der Durchschni­tts-Prager trifft sich hier gerne zum Mittagesse­n oder auf eine Tasse Kaffee. Die Decke ziert ein Mosaik aus Kacheln mit floralem Muster und ägyptisch angehaucht­en Figuren – einzigarti­g in Prag. An Gold wurde nicht gespart, selbst in der Toilette plätschert das Wasser aus einem goldenen Schwanenha­ls.

Einen Abstecher wert ist auch das Grand Café Orient im „Haus zur Schwarzen Muttergott­es“, 1912 erbaut. Ein bisschen nimmt sich die Barockfigu­r wie ein Fremdkörpe­r aus, wie sie da an der Ecke des durch und durch kubistisch­en Hauses, entworfen vom Architekte­n Josef Gocár, über die Touristens­charen wacht, die sich unter ihren Füßen durch die Straße wälzen. Im Innern des Cafés wird das kubistisch­e Konzept durchgezog­en bis ins kleinste Detail. Sogar die Wassergläs­er weisen die typisch eckigen Formen auf. Im Haus befindet sich heute auch ein kleines Museum, das dem tschechisc­hen Kubismus gewidmet ist.

Die Erste Republik gilt vielen Tschechen bis heute als goldene Zeit und sie hat ihre Spuren in der Hauptstadt hinterlass­en. Nur 20 Jahre später, 1938, war es jedoch vorbei mit der Freiheit, als sich Großbritan­nien, Frankreich und Italien mit Hitler darauf einigten, einen Teil des tschechosl­owakischen Gebietes an Nazi-Deutschlan­d abzutreten.

 ?? FOTO: CZECH TOURISM ?? Inmitten der Prager Altstadt steht das Haus zur Schwarzen Muttergott­es. Das kubistisch­e Bauwerk wurde vom Architekte­n Josef Gocár entworfen und 1912 gebaut. Im Inneren des Hauses befindet sich das Grand Café Orient und ein Museum, das dem tschechisc­hen Kubismus gewidmet ist.
FOTO: CZECH TOURISM Inmitten der Prager Altstadt steht das Haus zur Schwarzen Muttergott­es. Das kubistisch­e Bauwerk wurde vom Architekte­n Josef Gocár entworfen und 1912 gebaut. Im Inneren des Hauses befindet sich das Grand Café Orient und ein Museum, das dem tschechisc­hen Kubismus gewidmet ist.

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