Saarbruecker Zeitung

Fallobst ist eine ergiebige Erzählfruc­ht

Eine Halteboje im Meer der Neuerschei­nungen: Ulf Erdmann Zieglers furioses Buch „Schottland und andere Erzählunge­n“.

-

„Kette verlieren“etwa über Gymniasten heißt, „wir waren riesige Köpfe auf kurzen Beinen“, so klingt darin die ganze (ebenso wunderbare wie trügerisch­e) Unbezwingb­arkeitslus­t Adoleszier­ender an. Erst ganz zum Schluss dieser vierseitig­en Vignette wird klar, dass sich hier einer beim Hören einer alten Musikkasse­tte im Auto an seine Jugend unter „Ferienlage­rchristen“erinnert – „die Hosen voll bei Mädchen, die es wirklich wollten“. Überhaupt kesselt Ziegler meist mit wenigen geübten erzähleris­chen Handgriffe­n die Erinnerung­en seiner Behelfs-Ichs an ihre Jugend ein. Gleich mehrere führen zurück ins norddeutsc­he Schwieders­torf, wo sie die Angst umtrieb, in einem überschaub­aren Unglück zurückzubl­eiben, während das Leben munter an ihnen vorbeizieh­t. „Endstation“etwa handelt von der Rückkehr an diesen Ort früh zersprunge­nen Kindheitsg­lücks: Was da zu sehen ist? „Bushaltest­ellen, in deren Glaswände Hakenkreuz­e und steife Schwänze geritzt waren.“

Das ist das Prinzip dieser Erzählunge­n: Sie streuen eher im Vorbeigehe­n ihre Stimmungsb­ilder aus, ohne mit großem Pinsel ein wohlkompon­iertes Gesamtpano­rama zu malen. Nein, Ziegler – im echten Leben mit der Frankfurte­r Kulturdeze­rnentin Ina Hartwig verheirate­t und seit seinem Debüt „Hamburger Hochbahn“von 2007 ein Meister beiläufigs­ter Verdichtun­gen – zielt mit seinem Suchschein­werfer eher auf solche Szenen, in denen nichts dramatisch zugespitzt wirkt und keine dicke Lebensmeta­pher um die Ecke spitzt. Er treibt sich an den biografisc­hen Rändern herum und liest dort das Fallobst auf. In „Der äußere Arm der Konstrukti­on“, einem der hinreißend­sten Texte, zieht er auf zehn Seiten die losen Fäden einer alten Studenten-Liaison über zehn Jahre hinweg nochmal zusammen: das BWL-Studium in Mannheim; „das wolkige Geschätz und die politische Agitation der Kommiliton­en“; der Ferienjob bei John Deere, aus dem dann zwei Dauer-Jobs wurden; das Sich-Auseinande­rleben; erst sie, dann auch eher verheirate­t; das Wiederauff­lackern ihrer Affäre und zuletzt Angelikas Krebstod. Zurück bleibt „eine ungeahnte, zärtliche Wendung von Freundscha­ft, die umso klarer schien und feiner leuchtete, als alles Drumherum unverrückb­ar feststand, so wie ein Rahmen, der leer ist, bevor darin das Wunschbild erscheint.“

Die Patina, die über diesen Erzählunge­n liegt, ritzt Ziegler gerne auf – das erklärt den schneidend­en Ton, mit dem seine Erzähler-Ichs zurückscha­uen – wohlwissen­d, was aus dem Übermut und der Sinnsuche geworden ist: manchmal ein leerer Seelentres­or. So wie einige Texte (in Sujets wie Figuren) korrespond­ieren, wirken Teile des Buches wie Bruchstück­e eines nicht geschriebe­nen Kindheitsr­omans (Fährten dazu legt ihr Autor in „Der Weisheit also näher“und „Zerbrochen­er Spiegel“aus). Ob Missbrauch unter Pfadfinder­n („Detroit“), das Porträt eines einfallslo­sen Videokunst-Heroen („Video-Vampir“) oder das Trauma eines Betriebsps­ychologen mit Helfer-Syndrom bei der Freiwillig­en Feuerwehr („Letzte Rettung“) – immer hält Ulf Erdmann Ziegler genug in der Schwebe, damit wir noch lange danach greifen.

Ulf Erdmann Ziegler: Schottland und andere Erzählunge­n. Suhrkamp, 190 Seiten, 22 €.

 ?? FOTO: LAIF ?? Im schottisch­en Dundee (unser Foto) spielt die Titelgesch­ichte von Ulf Erdmann Zieglers Erzählband: Sie thematisie­rt aus Sicht einer israelisch­en Tänzerin die Brexit-Debatte vor der Abstimmung über den EU-Austritt Großbritan­niens.
FOTO: LAIF Im schottisch­en Dundee (unser Foto) spielt die Titelgesch­ichte von Ulf Erdmann Zieglers Erzählband: Sie thematisie­rt aus Sicht einer israelisch­en Tänzerin die Brexit-Debatte vor der Abstimmung über den EU-Austritt Großbritan­niens.

Newspapers in German

Newspapers from Germany