Saarbruecker Zeitung

Auf den Spuren des kalten Vaters

Natascha Wodins neues intimes Familiendr­ama „Irgendwo in diesem Dunkel“

- VON ULF MADER

STUTTGART (dpa) Leicht fällt es Natascha Wodin nicht, über ihre tragische Familienge­schichte zu schreiben. Nicht weil die Erzählung aus dem Alltag einer Familie ehemaliger Zwangsarbe­iter aus dem Osten im Nachkriegs­deutschlan­d so erschütter­nd wäre. Das ist sie fast in jeder Zeile ihres neuen Buches „Irgendwo in diesem Dunkel“. Der Titel beschreibt vielmehr, was so schwierig daran ist, das eigene Schicksal aufzuschre­iben: Wie aus dem endlosen Schweigen der Eltern etwas über die eigene Herkunft ans Licht bringen?

Natascha Wodin, Tochter einer ukrainisch­en Mutter und eines russischen Vaters, hat sich mit ihrem Familiendr­ama „Sie kam aus Mariupol“voriges Jahr den Leipziger Buchpreis erschriebe­n. Nun legt sie nach mit einem noch viel intimeren Buch. Diesmal geht sie auf Spurensuch­e im Leben des Vaters. Eines Mannes, der im Würgegriff zweier Diktaturen – unter Stalin und Hitler – sich selbst und anderen keine Freiheit gönnt. Er überlebt den Selbstmord der Mutter seiner beiden Töchter um Jahrzehnte. An seinem Sarg erinnert sich Wodin an ihre harte Kindheit mit ihm.

Sie erinnert sich an präzise ausgeführt­e Schläge eines Mannes, der ihr immer fremd bleibt, kaum Deutsch lernt. Und doch kann er mit seinem hellen Tenor im Chor der Donkosaken auf Tourneen so viel Geld verdienen, dass die Familie davon lebt. Als er seine Stimme verliert, wird er immer mehr zu dem Mann, den sie hasst. Aber wohl gerade diesem Vater verdankt sie es, dass sie Schriftste­llerin wurde. „Immer war es auch sein Schweigen gewesen, gegen das ich angeschrie­ben hatte“, erzählt sie im Buch. Es gelingt Natascha Wodin, zumindest ein paar Lichtstrah­len in das Dunkel der Vergangenh­eit zu lenken. Sie, die zu Sowjetzeit­en als Dolmetsche­rin oft in Moskau ist, schafft es, dort einen Bruder ihres Vaters ausfindig zu machen. Der weiß vieles, behält es aber für sich.

Die im Buch um die Mutter ausführlic­h erzählte Zeit in der ukrainisch­en Stadt Mariupol, wo sich ihre Eltern kennenlern­en, reißt sie diesmal nur an. Vergleichs­weise kurz handelt sie ab, dass die beiden nach dem Überfall Hitlerdeut­schlands auf die Sowjetunio­n vor der Roten Armee fliehen. Sie kommen als Ostarbeite­r nach Leipzig in ein Arbeitslag­er. Wenige Monate nach dessen Ende kommt Natascha Wodin in Bayern zur Welt. Wodin und ihre Eltern bleiben in der Nähe von Nürnberg. Sie werden aber ausgegrenz­t und gehasst von den Deutschen als feindliche Russen. Eindringli­ch schildert sie etwa Hetzjagden in der Schule.

Nichts aber trifft sie in den Kinderjahr­en so hart wie die Kälte des eigenen Vaters. Sie flieht schließlic­h, schlägt sich als hungerndes Straßenkin­d durch. Sie lügt, bettelt, stiehlt. Es ist ein Leben am Abgrund der Gesellscha­ft. Eine schmerzhaf­t beschriebe­ne Vergewalti­gung ist hier noch nicht das Ende erlebter Grausamkei­ten.

An keiner Stelle verliert Natascha Wodin dabei ihren distanzier­ten, schonungsl­os offenen Ton. Sie klagt nicht an, sie schildert Geschichte anhand menschlich­er Schicksale. Ausgangspu­nkt dieser Selbstspie­gelung mag zwar der Tod des Vaters sein. Aber wohl auch, weil sie selbst verzweifel­t am Schweigen der eigenen Eltern, die ihre Lebensgesc­hichten mit ins Grab nehmen, offenbart sich Natascha Wodin am Ende ihren Lesern. Für ihren eigenen Teil der Familienge­schichte gibt die inzwischen 72-Jährige nun sogar ihre intimsten Geheimniss­e preis.

Natascha Wodin: Irgendwo in diesem Dunkel. Rowohlt, 238 Seiten, 20 Euro.

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